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Osterfestival in Cuenca

Christus kam nur bis Cuenca

Obwohl hier die Stars der Klassikszene spielen, locken Namen wie Gardiner, René Jacobs und Jordi Savall nach wie vor nur ein paar Hundert Aficionados an. Die Rede ist von Cuenca, die alte kastilische Provinzhauptstadt auf halbem Weg zwischen Madrid und Valencia. Seit fast 50 Jahren gibt es dort jedes Jahr zur Osterzeit ein stimmungsvolles Festival für geistliche Musik.

Um die Leiden des Erlösers auszumalen, schreckte Barthold Heinrich Brockes auch vor drastischen Ausdrücken nicht zurück: »Komm, erwäge, wie durch die Heftigkeit der Schläge der beulenvolle Scheitel kracht, wie sie sein heil’ges Hirn zerschellen, wie seine tauben Augen schwellen«, dichtete der Hamburger Ratsherr 1712 in seiner Passion »Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus«. Und obwohl Brockes seine Verse für ein erzprotestantisches norddeutsches Publikum verfasste, passen sie eigentlich viel besser zu den Prozessionen der Semana Santa von Cuenca: Wo täglich zwischen Palmsonntag und Ostermontag die lebensgroßen Abbilder des geschundenen Erlösers durch die engen Altstadtgassen hinauf zur gotischen Kathedrale geschaukelt werden, sind auch die barocken Passionen nichts Exotisches mehr, sondern fügen sich in die lebensfrohe Blutrünstigkeit des grandiosen Spektakels.
Man versteht auf Anhieb, weshalb der spanische Kulturpolitiker Antonio Iglesias 1962 auf die Idee kam, hier ein Festival mit geistlicher Musik ins Leben zu rufen. Tatsächlich ist selbst in Spanien kaum irgendwo die religiös-theatralische Inbrunst, aus der heraus ein Großteil der geistlichen Musik entstand, spürbarer als in dieser alten kastilischen Provinzhauptstadt auf halbem Weg zwischen Madrid und Valencia. Während die pittoresken Umzüge in Sevilla längst zur Attraktion im weltumspannenden Sightseeing- Kalender geworden sind, hat Cuenca noch viel von seinem ursprünglichen Reiz bewahrt und wirkt auch im Karwochentrubel noch immer recht beschaulich. Die Gastronomie, überall Hauptindikator der Globalisierung, wartet hier noch mit deftig altspanischen Genüssen wie Schweinsfüßen und Kuttelsuppe auf. Tatsächlich passt der Name »Ciudad encantada« – »Verzauberte Stadt«, einer berühmten hochpittoresken Felsformation droben in den Bergen, auch für Cuenca selbst: Malerisch auf einem steil aufragenden Felsen zwischen den Flüssen Júcar und Huécar gelegen, erlebte die Stadt ihre Blütezeit zwischen der Eroberung durch die Spanier Mitte des zwölften Jahrhunderts und dem Ende der Reconquista. Dann wurde Cuenca allerdings erstmal Hinterland: Während die Musik im reichen Sevilla und der neuen Hauptstadt Madrid spielte, dümpelte die bedeutungslos gewordene Bergstadt Jahrhunderte vor sich hin. Daran haben auch die 48 Jahre wenig geändert, in denen die »Semana de la música religiosa« die Hochkultur in die 50.000-Einwohner- Stadt holt: Obwohl hier die Stars der Klassikszene spielen, locken Namen wie Gardiner, René Jacobs und Jordi Savall nach wie vor nur ein paar Hundert Aficionados an.
Und das, obwohl man hier die geistliche Musik quasi am Originalschauplatz erlebt: Die dumpfen Trommelwirbel und schneidenden Banda- Fanfaren der Prozessionsgruppen dringen manchmal sogar durch die armdicken Wände der alten Kirchen und geben Werken wie den asketischen Leçons de Tenèbres des französischen Barockmeisters Marc-Antoine Charpentier einen ungeahnten Aktualitätsschub. Was natürlich nicht immer passt – nachdem das Festival die ersten vier Dekaden über ausschließlich in den diversen Kirchen stattgefunden hatte, entschloss man sich deshalb zum Bau eines neuen, etwas abseits gelegenen Saals: Seit neun Jahren geht ein erheblicher Teil der über 30 Festivalkonzerte in dem 700 Plätze fassenden Saal zu Füßen der Altstadt über die Bühne. Und wer sich anschließend in den Glaubenstrubel stürzen will, muss ein paar Hundert Stufen zum Kathedralplatz hinaufklettern. Mit dem Provinzidyll könnte es allerdings bald vorbei sein: 2011 soll die Hochgeschwindigkeits-Zugstrecke von Madrid nach Valencia eröffnet werden – mit Zwischenstopp in Cuenca. Man möchte nur beten, dass der Glaube der Conquenser stark genug ist, auch das zu überstehen.

Jörg Königsdorf, 15.02.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2010



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