Die Fülle an jazzfernen Produktionen, die momentan unter dem Etikett »Weltmusik« oder »World music« segeln, haben etwas den Blick davor verstellt, dass einige der interessantesten Fusionen heute noch innerhalb des Jazz stattfinden. Paulo Cardoso ist einer der charaktervollsten Jazzbassisten in der europäischen Szene. Der kunstfertige Tieftöner entlockt seinem Instrument weit geschwungene Tonfolgen von tänzerischer Leichtigkeit und Elastizität, aber auch von der Festigkeit eines gesunden Baumstamms. Die Linienführung, oft durch seinen Gesang unterstützt, ist so persönlich, dass man ihm verdutzt zuhört und weiß, warum zum Beispiel Musiker wie Charlie Mariano und Mal Waldron gerne mit ihm musizierten. Sie alle hielten nicht am – von ihnen ohnehin beherrschten – Mainstream fest, sondern blickten immer über den sowieso schon breiten Tellerrand des Jazz in die Ferne, wo die Musik der Völker zu Hause ist.
Cardoso, das macht ihn unverwechselbar unter den Jazzbassisten in Deutschland, ist Brasilianer, und zwar einer von jenen, denen die ganze Vielfalt des rhythmischen und folkloristischen Erbes seiner Heimat zu Gebote steht. Damit kann er ganz anderen Gebrauch davon machen als so viele europäische oder US-Jazzer, die ein paar Bossas kennen und sich dadurch einen brasilianischen Anstrich geben. Sie versetzen sich damit nämlich nur durch ein gewisses Einfühlungsvermögen in eine ihnen fremde Sphäre und erreichen dabei letztlich doch nur die Spitze des Zuckerhuts. Auf »Paulo Cardoso Plays with Acervo Coisas Gostosas!!!« (Conception Records) zeigt der Bassist (wie es auf ihre Weise die Gismontis, Pascoals und Nenés in Brasilien tun), welche Bandbreite die Verbindung von Jazz mit brasilianischen Wurzeln aufweisen kann.
Seine Gruppe Acervo hat ein sehr schmackhaftes Buffet angerichtet. Mit ungeheurem Spielwitz und einer tüchtigen Portion Einfallsreichtum machten sich die sechs Multiinstrumentalisten – Paulo Cardoso (b, voc), Márcio Tubino (ts, fl, perc), Wanja Slavin (ss, cl), Leonardo Monatana (p), Zélia Fonseca (g, voc, perc), Angela Frontera (dr, perc) – in einem Münchner Studio über Originals von Cardoso und befreundeten Kollegen, aber auch über Lieder von Chico Buarque und Edu Lobo her. Leckeres Material, wie der CD-Titel andeutet, aber auch herausforderndes. Ob beim stimulierenden hypnotischen Maractu-Rhythmus in »Gostosa!«, ob bei der verträumten Melancholie in »A mais bonita« oder der entspannten, vom Händeklatschen begleiteten Samba de Roda »O baixo no samba«, auf dem der Bassist umwerfend den Vorsänger mimt – immer wieder tippt man unwillkürlich auf die Repeat-Taste, so vergnüglich und abwechslungsreich geht es zu.
Während der Jazz mit indischer oder arabischer Musik schon so viele Verbindungen eingegangen ist, dass man hier bereits von Musikeralltag sprechen kann, blieben die Berührungen zur chinesischen Musik seltsamerweise auf wenige Einzelfälle beschränkt. An der pentatonischen Melodik kann es nicht liegen, finden wir sie doch auch in so uramerikanischen Genres wie Spirituals oder in Liedern der Indianer und der britischen Siedler vor. Schon Jazzikonen wie Lester Young hatten ein Faible für improvisierte pentatonische Linien. Schwierig wird es nur, wenn man chinesische Lieder im Sinne des Mainstream-Jazz reharmonisiert und nicht nur modal improvisieren will. Dem deutschen Mundharmonika-Virtuosen Jens Bunge, der seit Jahren Asien bereist und sich in dortiges Liedgut verliebt hat, gelingt dieser Transfer bestens.
Für sein entspanntes, eingängiges Album »Shanghai Blue« (Rodenstein Records/Our distribution ROD34) fuhr er eigens nach Schanghai und nahm mit einer internationalen Musikerkonstellation – die Rhythmusgruppe Huang Jianyi (p), E. J. Parker (b) und Charles Foldesh (dr) sowie zahlreichen, überwiegend asiatischen Gästen – Chinesisches, Taiwanesisches, Indonesisches und Eigenes auf. Obwohl, oder gerade weil so viele chinesische Jazzmusiker mitwirken, kommt das Album ganz ohne exotischen Anstrich aus. Das Violinspiel von Peng Fei (den man leider nur auf einem Stück hört) zeigt etwa, dass ihm Stuff Smith näher steht als chinesische Geigerware à la »Butterfly Lovers«. So wird uns oft nur durch den chinesischen Gesang klar, dass wir einem Album aus Schanghai lauschen und nicht etwa dem berühmten Harmonika-Jazzer Toots Thielemans.
Auch »Writings on the Wall« (Ozella/Galileo Music OZ016CD), das zweite Album des Gitarristen Michel Sajrawy, ließe sich fast nahtlos in die Kategorie swingende Musik eines modernen Jazzvirtuosen einordnen, in diesem Fall als Album eines modal improvisierenden Postboppers mit leichtem Rockeinschlag, dessen Klangwelt von Klarheit und Sanftheit bestimmt ist. Doch selbst dort, wo er sich mit seiner Begleitmannschaft (dem Pianisten Franck Dhersin, dem Bassisten Valeri Lipets und den sich abwechselnden Drummern Ameen Atrash und Evgeni Maistrovski) über den Blues oder verschiedene Harmonieschemata hermacht, die so altehrwürdig sind wie Gershwins »I Got Rhythm«, errät man die Herkunft aus dem Nahen Osten, wenn auch nicht, dass er christlicher Palästinenser mit israelischem Pass ist: Arabische Rhythmen und Modi gehen mit dem Vokabular der Jazzgitarre zwischen, sagen wir mal, Jim Hall und John McLaughlin, eine nahtlose Verbindung ein, die noch dazu so angenehm »untrendig« ist und die sich auf eine ganz unaufdringliche Weise nur dem eigenen Geschmack und der jeweiligen Sozialisation verdankt. Seine Einfälle gleichen ornamentalem östlichen Zierrat, bei dessen blitzsauberen Perlen die Grenze zwischen Blue Notes und arabischen Mikrotönen verwischt. So gleicht Sajrawys Spiel wie ein gesundes Naturprodukt etwa einem guten Wein, den ja nicht nur der charakteristische Geschmack international verbreiteter Traubensorten, sondern das Terroir unverwechselbar machen.
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