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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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René Jacobs

»Ich werde ernster«

René Jacobs dirigiert nicht nur oft und gerne Alte Musik, er verkörpert wie kaum ein anderer den Maestrotypus früherer Tage. Der Erfolg gibt ihm recht: Mit Telemanns Brockes-Passion und Mozarts »Idomeneo« sind ihm zwei wunderbare Neueinspielungen gelungen. In Paris unterhielt sich Robert Fraunholzer mit ihm über eben jene frühe Mozartoper, neue Regiemoden und einen kleinen Bleistift.

RONDO: Herr Jacobs, Sie leben hier im schönen Pariser Stadtteil Marais, in Laufweite zur Bastille-Oper und zum Musée Picasso. Passt das zu Ihnen?!

René Jacobs: Dieses Haus, in dem wir wohnen, passt sehr, denn es stammt aus dem 17. Jahrhundert. Sogar bei trübem Wetter kann man hier herrlich ziellos herumspazieren. Das kann ich in Berlin vielleicht weniger gut, obwohl ich Berlin – von den Menschen und vom Kulturleben her – für eine viel interessantere Stadt halte.

RONDO: Auf Wikipedia ist zu lesen, Ihre Mozartaufnahmen seien »revolutionär«. Sind sie es?

Jacobs: Das kommt auf den Begriff »revolutionär« an. Das Einzige, was ich mit Mozarts Werken tun möchte, ist, sie so zu lesen, als ob sie neu wären. Dabei versuche ich als Erstes, das Libretto ernst zu nehmen. Bei »Don Giovanni« war ich nicht der Erste, bei Giambattista Varescos »Idomeneo« vielleicht schon. Viele haben gefunden, dass erst Mozart Geniales daraus gemacht habe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dieses Libretto seine eigene Genialität hat.

RONDO: Was ist das Geniale am »Idomeneo«-Text?

Jacobs: Varesco hat das zugrunde liegende Libretto von Antoine Danchet, das schon für »Idoménée« von Campra benutzt worden war, humanisiert. »La voce« am Ende der Oper ist – im aufklärerischen Sinne – als Stimme der Menschlichkeit zu interpretieren. Zwei Mal glauben das Volk und Idomeneo in einer Art von Massenwahn, Neptun auf dem Meer zu sehen. Dabei haben wir es, glaube ich, mit Religionskritik zu tun. Im »dogmatischen« Arpeggio-Motiv, das im 3. Akt den Gesang des Hohepriesters begleitet, wollte Mozart die Idee des Fanatismus ausdrücken.

RONDO: War Mozart so kritisch gegenüber der Religion?

Jacobs: Wir wissen, dass er zwar an Gott geglaubt hat, aber für die katholische Religion nicht viel Sympathie aufbrachte. Sein großer Feind in Salzburg war der Erzbischof. Weil Varesco Kaplan im Dienste dieses Erzbischofs war, hat es menschlich zwischen den beiden nicht gut funktioniert. Trotzdem glaube ich, dass beide inhaltlich harmonierten. Im »Idomeneo« kommt die modernste Musik vor, die Mozart geschrieben hat. In den Chören etwa. Und bei Ilia und Elektra, wenn die Musik wie ein Vorschein auf die Da-Ponte-Opern klingt. Die archaischste Musik dagegen haben die Charaktere, die zum Ancien Régime oder zum Aberglauben gehören.

RONDO: Warum sind Sie bei ernsten Opern immer am besten?

Jacobs: Ich werde älter und gehe immer stärker in die ernste Richtung. Von Rossini mache ich jetzt »Tancredi«, danach würde ich am liebsten wieder eine Seria-Oper machen, etwa »Otello«. Auch bei Händel dirigiere ich inzwischen lieber die dramatischen Oratorien. Das kommt aber auch daher, dass ich so enttäuscht darüber bin, wie Händel heute gemacht wird – und wie oft.

RONDO: Wird Händel zu viel aufgeführt?

Jacobs: Ja, und vor allem zu oberflächlich. Es genügt heute, dass man alte Instrumente und gute Sänger hat, und einen Regisseur, der alles dafür tut, auf die Titelseite der »Opernwelt« zu kommen. Nächstes Jahr mache ich in der Berliner Staatsoper »Agrippina«, Regie führen wird Vincent Boussard. Regisseure wie er gehören zur Zukunft, glaube ich, während das modische Regietheater wahrscheinlich der Vergangenheit angehören wird.

RONDO: Woher wissen Sie das?

Jacobs: Inszenierungsstile bewegen sich in Wellen. Für mich liegt die Wahrheit im Originalkonzept, das vom Librettisten und vom Komponisten stammt. Viele Regisseure sagen: Das Stück gefällt mir nicht, aber ich werde was daraus machen. Das finde ich unehrlich.

RONDO: So dogmatisch, wie Sie jetzt tun, sind Sie aber gar nicht, oder?

Jacobs: Nein, nur mit Vergnügen politisch unkorrekt. Von den Regisseuren, die ich in Berlin vorgeschlagen hatte, hat der Intendant Peter Mussbach nie einen akzeptiert. Er hat immer einen eigenen durchgesetzt.

RONDO: Sie dirigieren mit einem Bleistift. Besitzen Sie überhaupt einen echten Taktstock?

Jacobs: Ich habe mal einen geschenkt bekommen in der Hoffnung, ich würde ihn benutzen. Ich weiß gar nicht, wo er ist. Ein Bleistift gefällt mir besser. Man kann damit schreiben. Und es ist kein Machtsymbol. Es ist nämlich ein sehr billiger Bleistift (lacht).

RONDO: Sie gelten unter Sängern als streng. Ist der Maestrotypus heutzutage auf die Alte Musik übergegangen?

Jacobs: Ich verlange jedenfalls viel. Aber die meisten Sänger sind sehr froh, wenn ich sie wieder engagiere. Die meisten spüren, dass ich alles tue, um ihre Qualitäten hervorzukehren und die Defekte zu verschleiern. Niemand ist perfekt, und Singen ist ein komplizierter Vorgang. Meistens schreibe ich die Verzierungen aus und schicke alles vorher an die Sänger – aber nur als Vorschlag. Ich möchte vermeiden, dass bei einer Besetzung mit sechs Sängern in sechs verschiedenen Stilen verziert wird.

RONDO: Es gab früher Dirigenten, die die Dinge produktiv »laufen lassen« konnten, indem sie einfach dem Orchester vertrauten. Können Sie das?

Jacobs: In Opern kann man es nur bei längeren Arien mit wenig Temposchwankungen laufen lassen. Ich bin allerdings sicher, dass die Art, wie viele meiner Kollegen das Orchester kontrollieren, nicht historisch ist.

RONDO: Heißt das, die historische Aufführungspraxis ist selbst unhistorisch?

Jacobs: Mir fehlt total die Ambition zu sagen, dass das, was ich mache, authentisch sei. Das Einzige, was ich authentisch machen kann, ist Jacobs.

RONDO: Sie schimpfen manchmal auf ein Snobpublikum in Repertoireopern. Glauben Sie wirklich, dass Sie ein besseres Publikum haben?

Jacobs: Ich sehe in der Barockoper oft jüngere Leute, und ich sehne mich nach einem jungen Publikum – ob Snobs oder nicht.

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»Idomeneo« zum Fressen

René Jacobs’ erste, prägende Aufnahme von Mozarts »Così fan tutte« sei diejenige von Herbert von Karajan (mit Elisabeth Schwarzkopf) gewesen, sagte er am Rande des Interviews. Erstaunlich genug. Wenn es im Fall des »Idomeneo« kein vergleichbares Urerlebnis für ihn gab, so mag das am Fehlen einer echten Referenzaufnahme liegen. John Pritchards gekürzter Livemitschnitt aus Glyndebourne (1956) bietet mit dem grandiosen Léopold Simoneau die Tenorversion für den Idamante und eine sirenenhaft betörende Sena Jurinac als Ilia. Über dem Katalogklassiker liegt eine ehrwürdige Schicht Staub.
Die 1980 vorbildlich eingespielte Neuaufnahme unter Nikolaus Harnoncourt entdeckte dank schroffer Klüfte und aufgemachter Striche ein ganz neues Stück. Das Problem der Titelbesetzung löste man mit dem spröden Werner Hollweg indes nicht. Eine gewisse Ungreifbarkeit der Titelfigur bekam auch John Eliot Gardiner 1990 zu spüren, der den schönstimmigen, allzu ausgeglichenen Anthony Rolfe-Johnson mit dieser Aufgabe betraute.
Die »Idomeneo«-Diskografie ist reich an gloriosen Sängern. Doch alle übrigen Gesamtaufnahmen sind nur dank einzelner Besetzungscoups interessant: Ian Bostridge als Idomeneo (Mackerras 2001), Lucia Popp als Ilia (Pritchard 1983), Julia Varady als Elettra (Böhm 1977) oder Cecilia Bartoli als Idamante (Levine 1994). Vollends im Reich hörenswerter Kuriositäten landen wir mit Luciano Pavarotti als Idomeneo (Pritchard 1984). So betraute man mit wenig Erfolg auch Francisco Araiza mit der Titelrolle (Colin Davis 1991), durchaus glücklicher Nicolai Gedda (Schmidt-Isserstedt 1971) und natürlich auch den stilistisch blindwütigen Plácido Domingo (unter Levine). »Idomeneo« – für Neudeuter nach wie vor ein gefundenes Fressen.

Robert Fraunholzer, 29.03.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2009



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