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Es war einmal ein großer Musiker, der komponierte über 100 Sinfonien, einfach weil es ihm Spaß machte. Circa 200 Jahre später wurde die Schallplatte erfunden, und die Vielzahl der Sinfonien schrumpfte auf vier oder fünf »Greatest Hits«. Da kam ein genialer Verrückter und fragte: Warum nur vier oder fünf? Wo sie doch alle so gut sind?! Und zeigen sie nicht unnachahmlich eine Entwicklung auf ...? Er ging zu einem großen Label und schlug vor, ihnen alle Sinfonien des Großen einzuspielen – 104, um genau zu sein. Dort hielt man den Verrückten erst mal für verrückt. Wer sollte so was kaufen, das hatte es doch noch nie gegeben? Aber ein junger Produzent der Firma unterstützte den Verrückten, und bald begann die Produktion. Das alles klingt wie ein Märchen, aber so kam ein Jahrhundertprojekt der Schallplattengeschichte zustande, die Gesamtaufnahme der Sinfonien von Joseph Haydn, mit Antal Doráti und der Philharmonia Hungarica. Der junge Produzent hieß: James Mallinson.
Berichtet Mallinson: »Ich hatte gerade bei Decca angefangen als Produzent, da kam Antal Doráti mit seinem Herzenswunsch. Man fragte mich, was ich davon halte, und ich riet zu – ich war ja noch jung und unerfahren. Ich dachte: Hey, das wird ein Abenteuer! Und das wurde es dann auch.« Auf der Suche nach einem weniger bekannten, aber trotzdem sehr versierten Orchester, das genügend Zeit für ein solches Mammutprojekt hatte, fand man die Philharmonia Hungarica – ein Ensemble von Budapester Musikern, die vor dem Überfall der Sowjetunion auf ihr Land und vor dem nachfolgenden Steinzeit- Stalinismus geflohen waren. »Ihr Sponsor war die UNESCO«, sagt Mallinson, »und zuerst siedelte man das Orchester in Wien an. Das war aber zu nah an Budapest – die kommunistischen Machthaber versuchten immer wieder, das Ensemble zu destabilisieren, indem sie einzelne Mitglieder ›schanghaiten‹ (= kidnappten). Auf der Suche nach einem Standort möglichst weit weg vom ›Eisernen Vorhang‹ fand sich dann das Städtchen Marl, mitten im Herzen des Ruhrgebiets.«
Die Aufnahmen zur »Probeserie« der Sturm-und- Drang-Sinfonien fanden erst in Recklinghausen statt, dessen Festspielhaus aber keine gute Akustik hatte. So ging’s weiter in die Bielefelder Oetkerhalle – was sich akustisch als Segen erwies, transporttechnisch aber als Fluch. Schließlich schlug ein Fagottist des Orchesters die St.-Bonifatius- Kirche in Marl vor, gerade ums Eck vom Hauptquartier des Orchesters: Die hatte eine für Kirchen unüblich trockene Akustik, und fortan war das Riesenprojekt sozusagen »in trockenen Tüchern«. Die Probeserie wurde ein großer Erfolg, daher machte man weiter, bis auch die 104. Sinfonie Haydns im Kasten war. »Viereinhalb Jahre hat es gedauert«, resümiert Mallinson, »aber die Fluktuation im Orchester war auch sehr hoch.« Kein Wunder, wenn die Musiker immer wieder von den Kommunisten »schanghait« wurden. Mallinson lacht: »Nein, nein, jetzt waren es nicht mehr die Kommunisten – sondern andere Orchester, die gute Spieler brauchten!«
Thomas Rübenacker, 29.03.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2009
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