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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Musikermedizin

»Spielen, bis der Arzt kommt«

Jeder Beruf birgt seine eigenen gesundheitlichen Risiken. Auch der Beruf des Musikers. Wie krank sind unsere Musiker wirklich? Dies fragt sich so mancher Musikliebhaber, der von Rolando Villazóns oder Murray Perahias Auszeiten hörte oder Artikel las, die von Doping, Alkohol und Betablockern hinter der Bühne berichten. Doch die Musikermedizin fragt längst: Wie hält sich ein Musiker gesund?

Ein mulmiges Gefühl beschleicht uns, als uns die Sekretärin bittet, noch einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen. Es ist das Wartezimmer des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule Hannover. Das Institut ist die älteste Einrichtung ihrer Art in Deutschland und neben dem Freiburger Institut für Musikermedizin auch die bekannteste. Wir müssen nicht lange schmoren: Professor Eckart Altenmüller, Leiter des Instituts, Neurologe mit Spezialgebiet Bewegungsstörungen und außerdem auch noch ausgebildeter Flötist, ist auf den Schlag genau da. Letzte Assoziationen an gewöhnliche Arztbesuche verfliegen, als wir sein Arbeitszimmer betreten, das von einem glänzenden, schwarzen Flügel beherrscht wird. Wobei es sich bei dem Instrument zugleich auch um ein Arbeitsgerät handelt, wie uns Altenmüller erklärt: Ein Knopfdruck, und der verborgene Playerpianoantrieb lässt die Tasten genau die Töne wiedergeben, die der letzte Patient angeschlagen hat.
So entspannt wie wir lauschen wohl nur wenige Besucher den Klängen, denn viele Musiker, die Altenmüller aufsuchen, stehen vor einer Krise, die mehr ist als bloße Angst vor Berufsunfähigkeit. Musikerkarrieren beginnen schließlich schon in der Kindheit, erinnert uns Altenmüller. Treten erste Beeinträchtigungen beim Musizieren ein, stelle dies oft auch schon das ganze Selbstverständnis des Patienten infrage. Zu den berühmtesten Besuchern in Hannover gehörte der Pianist Leon Fleisher, der an fokaler Dystonie leidet – einer Bewegungsstörung, die vermutlich auf einer neuronalen Fehlfunktion im Gehirn basiert. Sie verwehrte ihm lange Zeit den Gebrauch der rechten Hand. Als er seine Leidensgeschichte in den Achtzigerjahren öffentlich machte, erlebte auch die Musikermedizin einen deutlichen Aufschwung. Heute ist die Disziplin, die in den Zwanzigerjahren von Kurt Singer und Julius Flesch begründet wurde, keine Geheimwissenschaft mehr. Inzwischen gibt es kein Orchester in Deutschland, von dem nicht schon ein Musiker in Hannover oder in Freiburg gewesen ist.

Dass Spitzenmusiker krank werden, ist eher die Ausnahme

So aufsehenerregend Fälle wie Fleisher auch waren: Dass Spitzenmusiker krank werden, sei eher die Ausnahme: »Die berühmten Leute sind berühmt, weil sie meistens sehr gesund sind«, meint Altenmüller: »Die haben eine unglaubliche Begabung, gutes motorisches Geschick und in der Regel gute Arbeitsbedingungen. Und sie haben sich auch exzellente Gesunderhaltungsstrategien angewöhnen müssen, um diese Belastungen durchzustehen.« Leon Fleisher sage dagegen heute selbst, dass er als junger Mann vollkommen unvernünftig gearbeitet habe: »Jede Minute, die ich nicht am Klavier war, war eine verlorene Minute.« Diese Einschätzung kann Altenmüllers Kollege Professor Bernhard Richter vom Freiburger Institut auch für den Sängerbereich bestätigen: »Wirkliche Spitzensänger«, sagt er, »sind viel stabiler, als man denkt.« Er relativiert auch die Diagnose von Endrik Wottrich, der in einem Interview von »Doping in der Oper« sprach und beklagte, dass viele Sänger den Belastungen nur noch durch Einnahme von Alkohol oder Betablockern gewachsen seien. Dass der Konkurrenzdruck im globalisierten Sängermarkt hoch sei, gibt Richter zwar zu. »Aber der Beruf war immer anspruchsvoll«, sagt er: »Man steht im Rampenlicht – und die im Dunkeln sieht man nicht.« Wer nicht schwindelfrei ist, sollte eben auch kein Dachdecker werden.
Ob Karrieredruck oder Ehrgeiz: Die größte Gefährdung für Sänger liege heute in der Überlastung – besonders am Anfang der Laufbahn, wenn »zu früh, zu viel, zu schweres Fach« gesungen werde. In einer Zeit, da Karrieren noch am Stadttheater reiften, wachten neben Gesangslehrern oft auch noch Dirigenten und Korrepetitoren darüber, dass ein Talent nicht vor der Zeit verbrannt wurde. Heute dagegen sei es sinnvoll, wenn zur Crew um einen Spitzensänger auch ein Musikmediziner gehöre. Und ebenso wie Sportmediziner nicht erst dann aktiv werden, wenn Verletzte vom Platz getragen würden, stünden Musikerärzte auch zur Prävention bereit – sie seien selbst dann Ansprechpartner, wenn keine Beschwerden oder ein unbestimmter »discomfort« vorliege.
Kein Wunder, dass sich die Musikmediziner für ihren aktuellen Kongress das Thema »Was hält Musiker gesund?« gestellt haben: »Wir wollen nicht mehr wissen, wie viel Prozent der Bratscher hat Schulterschmerzen links und wie viel Prozent der Geiger Rückenschmerzen rechts«, erklärt Altenmüller: »Das ist inzwischen bekannt.« Man müsse nun erreichen, dass von der ersten Stunde in der Musikschule an ein gesundheitliches Grundwissen vermittelt werde. Selbst Geigerknoten, die fleißige junge Schüler stolz wie einen Schmiss tragen, müssten eigentlich nicht sein. Erst recht sollten Lehraufträge von Musikmedizinern an den Musikhochschulen gefördert werden. Vom mentalen Üben bis hin zum passenden Aufwärmtraining könne man dabei auch hier viel von Sportlern lernen: »Fünf Stunden Zweite Geige ›Meistersinger‹, da muss man sich entsprechend vorbereiten – auch körperlich.« Daneben treiben die Musikmediziner ebenso Fragen nach der Gestaltung des Arbeitsplatzes um. Nicht weniger wichtig als die Suche nach intelligentem Lärmschutz ist dabei die Frage nach selbstbestimmter Arbeit im Orchester: »Und da haben wir einen Konflikt«, sagt Altenmüller: »Ein Orchester kann nicht selbstbestimmt sein. Bestimmen tut der, der vorne steht. Das ist etwas, was unserem Modell der Autonomie, dem Goldstandard unserer Gesellschaft, widerspricht.« Dennoch ließe sich das Gefühl der Selbstbestimmung im Ensemble verbessern. Die Maßnahmen reichen von der Wahl des Dirigenten über Mitgestaltungsmöglichkeiten bei Programmen bis hin zu Rotation an den Pulten oder sogar Austausch von Musikern zwischen verschiedenen Orchestern, wie er in den Niederlanden bereits üblich ist. Und bevor der Dirigent zum Angstmacher wird, empfiehlt Altenmüller ein Kommunikationstraining für den Maestro: »Das ist schon frappierend, wie durch wenige wohlgewählte Worte ganz schwierige Situationen für alle positiv gelöst werden könnten.«
Eine Musikerseuche wird sich allerdings nie völlig ausrotten lassen: das Lampenfieber. Doch das muss auch nicht sein – schließlich gebe es ja auch positives Lampenfieber, erfahren wir von der Freiburger Institutsleiterin Professor Claudia Spahn. Gegen die Angst hat sie eine breite Palette von Maßnahmen anzubieten: von der Beschäftigung mit der eigenen Person über Atem- und Entspannungsübungen bis hin zum Training auf echten Bühnen. Lampenfieber dauerhaft mit Medikamenten zu bekämpfen, hält sie für keine glückliche Lösung: »Musiker sein« – so ihr Credo – »ist schließlich keine Krankheit.«

Carsten Niemann, 03.05.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2008



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