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Mit dem lettischen Dirigenten Andris Nelsons setzt endlich der große Generationenwechsel ein. Tänzerisch fliehende Bewegungen. Ein wehender Blondschopf von gut gelaunt jungenhaftem Typ. Und ein Gegenmodell zum zornigen Zeus, wie er bislang den Dirigentenberuf dominierte. Bloß kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Wer mit diesem Steckbrief in der Hand nach einem Dirigenten fahndet, landete bisher am ehesten bei dem lettischen Dirigier-Ass Mariss Jansons – dem vermutlich Besten seiner Generation. Andris Nelsons, sein Schüler, muss mit der Bürde leben, Jansons’ gestischer und in vieler Hinsicht auch musikalischer Wiedergänger zu sein.
Derselbe Schwung, dieselbe großartige Fähigkeit, sich von der Musik mitreißen und sie zugleich entspannt fließen zu lassen. Selbst die Bejahungsfloskel (eher ein »Jo« als ein »Ja«) ist das Lieblingswort beider Landsleute. Sie sprechen es so gedehnt melodisch aus, dass es in leichtes Lachen übergeht. Er bekennt sich emphatisch zu Offenheit und gutem Willen. »Ich habe immer gedacht, ich bin zu jung«, sagt der heute 29-Jährige. Dann habe er gemerkt, dass er doch »mehr Ideen als Erfahrungen« habe. Wenn sich dieses Verhältnis einmal umkehren sollte, so sagt er tiefsinnig, »geht das Leben zu Ende«.
Doch schon hellen sich seine Züge wieder auf. Man redet dann noch eine halbe Stunde weiter. Und muss ihn lieben für sein bereitwilliges Übermaß an Goodwill, musikalischem Familiensinn und Bescheidenheit. Und für die völlige Unfähigkeit, etwas auszusprechen, was nicht auch jeder andere Teamworker an Allgemeinplätzen sagen könnte. Auch das ist kein Wunder. Nicht nur Karajan begann zu stottern und sich zu winden, wenn man ihn nach Musikalischem fragte. Die meisten großen Dirigenten können erstaunlich wenig über ihren eigenen Beruf, die Musik, sagen. Bestenfalls reden sie über sich selbst (oder über andere Dirigenten). Auch Andris Nelsons sagt im Grunde genommen herzlich wenig. Viel günstiger fällt der Eindruck aus, wenn man ihn mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra hört, das er als Nachfolger von Sakari Oramo (und von Simon Rattle) seit dieser Saison leitet.
Dort fällt auf, dass der gelernte Trompeter, der zwischenzeitlich als Chef der Deutschen Oper Berlin im Gespräch war, ein vehementer Streicherdirigent ist. Was für flirrend schöne Violinen! Oft zeigen sie jene Gischt von Obertönen, wie dies beim seligen Carlos Kleiber üblich war. Wohl von Karajan (vermittelt durch Jansons) stammt dagegen die perfekte Klangintegration – die hier indes nicht mehr zu abwaschbarem Oberflächenglanz führt. Von der russischen Schule Mravinskys hat Nelsons schließlich die energische Unberechenbarkeit, einen glühenden Unterton übernommen. So verwandelte er bei seinem Einstandskonzert in Birmingham unlängst Antonín Dvorˇáks Wunschkonzertklassiker »Aus der neuen Welt« in ein Mirakel von überschäumender Grandezza und beinahe ruppiger Eleganz. Der Verfasser hat dies kaum je so gut gehört. In den Proben entscheide es sich in den ersten zehn Minuten, ob man mit einem Orchester könne oder nicht, sagt Nelsons. »Orchester wollen etwas hören.« Tatsächlich liegt in der schlichten Mischung aus Vorbereitung und Spontaneität der Erfolg dieses wunderbaren, von der Oper herkommenden Dirigenten.
Zwischen den Altmeistern der Generation 60plus und jenen Supertalenten, die ihr Erbe antreten sollen, klafft heute meist eine Lücke von gut 30 Jahren. Sollte es wirklich eine Klassikkrise geben, so liegt sie gewiss auch in der Einseitigkeit begründet, mit der wir zu lange an den immer gleichen Altmeistern hingen. Wo große Talente auftauchen (wie auch im Fall von Gustavo Dudamel, Philippe Jordan oder Daniel Harding), lässt sich zumeist auch ein dirigentischer Förderer benennen, der diese Nachfolge mit ermöglicht hat. So liegt in der Jansons-Ähnlichkeit von Andris Nelsons auch ein positiver Grund für den Erfolg. An Nelsons’ erstaunlicher Karriere kann man ablesen, dass erst jetzt der große Generationswechsel bei den Dirigenten eingesetzt hat. Uns steht viel Bewegung bevor.
Robert Fraunholzer, 03.05.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2008
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