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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Voyage

Daniel Herskedal

Edition Records/Membran EDN 1124
(51 Min., 6/2018)

Vor einigen Jahren hätte sich eine „Voyage“ genannte Platte mit hoher Wahrscheinlichkeit spirituellen Themen gewidmet und die Reise in einen erweiterten Bewusstseinszustand in Töne gefasst. Obwohl die Worte auf dem Digipack von Daniel Herskedals Album „Voyage“ und der Pressetext des Labels keinen entsprechenden Hinweis geben, legen Klang und die Namen einzelner Stücke eine andere Reise nahe: die Flucht übers Mittelmeer nach Mitteleuropa. Wie anders wären „The Mediterranean Passage In the Age of Refugees“ oder „Rescue-At-Sea Operations“ sonst zu verstehen?
Das beginnt mit dem nervösen, hektischen Puls, den Daniel Herskedal mit der Tuba sowie der Pianist Eyolf Dale und Pianist Helge Andreas Norbakken „Batten Down The Hatches“ (Die Luken dicht machen) unterlegen, während Bergmund Waal Skaslien auf der Bratsche und Herskedal via Overdub auf der Basstrompete hoffnungsvolle Linien einziehen. „Cut and Run“ (Reißaus nehmen) spiegelt tatsächlich Aufbruchsstimmung – mal mit nachdenklichen, mal mit drängenden Passagen. In „The Mediterranean Passage In the Age of Refugees“ begegnen sich Bratsche und die vom Gastmusiker Maher Mahmoud gespielte arabische Oud, wobei die übrigen Ensemblemitglieder die beiden zunehmend intensiver und drängender begleiten, ihnen aber zwischendurch auch Freiräume fürs Zusammenklingen lassen.
In „The Great Race“ (Die große Hektik) schaffen Bratsche, Klavier, Percussion und Tuba einen rumorenden Untergrund, aus dem Basstrompete und Bratsche immer wieder mit hoffnungsvollen Melodien hervorstechen; der Nebentitel „Padua vs Passat“ dürfte sich auf zwei jeweils rund 100 Jahre alte Segelschiffe beziehen, die einst im interkontinentalen Warentransport eingesetzt wurden. Im Gegensatz zum gebrochenen Optimismus wirkt „Chatham Dockyard“ (museale Werft im englischen Chatham) wie ein sentimentaler Abgesang.
Nach diesem Einsprengsel zur Geschichte der Waren-Seefahrt führt „The Horizon“ wieder in die Gegenwart zurück. Die Percussion erinnert an das Dümpeln von Wellen an einem Schiffsrumpf, und lange Töne von Bratsche und Tuba sowie – gegen Ende – eine langsame Pianomelodie symbolisieren unendliche Weite und Einsamkeit. In „The Gulls Are Tossed Paper In The Wind“ (Die Möwen sind im Wind hin und her geschleudertes Papier) spiegeln Tuba, Klavier, Bratsche und Percussion die Unruhe, worauf „Molly Hunt’s Seagulls“ an die Forscherin erinnert, die sich mit lesbischen Möwen befasst hatte: ein kontemplatives Zwischenspiel mit Basstrompete, Klavier und Percussion, in dem Gedanken unerbittlich vorantreiben.
Mit „Rescue-At-Sea Operations“, den Seenoteinsätzen, wandelt sich die Atmosphäre: Motorische Kraft, das Wiederaufleben der Oud und zarte Melodien der Basstrompete symbolisieren das Erstarken des Lebensmuts und die Rettung. Das Finale, „The Lighthouse“ (Der Leuchtturm) hingegen, erscheint als Overdub-Duett von Tuba und Basstrompete wie ein Zwitter aus Erschöpfung und einem Trauerlied, als ob Herskedal einerseits die Erleichterung der Geretteten und andererseits die Klage über die Ertrunkenen in Töne fassen wollte.

Werner Stiefele, 09.03.2019


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