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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Mythos

Mulo Francel, Chris Gall

GLM/Soulfood FM237
(68 Min., 11/2018, 7/2019)

Die Zeit der großen verbindenden Erzählungen scheint endgültig vorüber. Mittlerweile ist nur noch die Rede von Filterblasen und eigenen Narrativen, in denen sich Fake News einnisten können wie Viren in einem geschwächten Körper.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Musik von Mulo Francel und Chris Gall wie ein dringend benötigtes geistiges Muskelrelaxans in einer unübersichtlich gewordenen Welt. In ihren kammermusikalischen Dialogen besinnen sich der Holzbläser und der Pianist auf die Kraft mythischer Erzählungen und spannen den Bogen von der griechischen Antike über das Christentum bis hin zu utopischen Gesellschaftsentwürfen und Radioheads Thom Yorke, dem Orpheus des Indie-Rock. Dabei bleiben die beiden Jugendfreunde in ihren Äußerungen so klar und firm wie dorische Säulen.
Auf Grundlage der unbeirrt rollenden Arpeggien des Klaviers meißelt Francel mit Tenor- und Sopransax und verschiedenen Mitgliedern des Klarinettengeschlechts überlegte Klanggebilde in die Luft. „Palinuro“ etwa wirkt da trotz seiner Rasanz so hypnotisierend wie die Einflüsterungen des Schlafgotts Somnus, die Aeneasʼ Steuermann Palinurus über Bord ins wild bewegte Meer sinken ließen. In „Sketches of Styx“ lässt Francel eine Kontrabassklarinette so unterwelttief röhren wie den Höllenhund Zerberus, während er in „Ikarusʼ Dream“ als Klarinettenschlangenbeschwörer seine weltmusikalische Ubiquität unter Beweis stellt, die er sich mit seinem Quartett Quadro Nuevo über die Jahre erspielt hat.
Gall wiederum zeigt seine Qualitäten in der Vermittlung zwischen den Musen des Jazz, der Klassik und des Pop, die auch schon seine Soloeinspielung „Room of Silence“ aus dem vergangenen Jahr bestimmte. Mit dem Ergebnis, dass Henry Purcells „Didoʼs Lament“ klingt wie ein feiner Standard aus dem Great American Songbook. Und bei Bachs „Jesu bleibet meine Freude“ interagiert der Pianist mit dem Tenorsaxofon so liebevoll, vorausschauend und unterstützend wie Kastor mit Pollux.
Der Kokon der Zeitlosigkeit und des Wohlklangs bekommt nur einmal kurz Risse: wenn im Abschlussstück, der Live-Aufnahme „Old Folks“ aus dem Konzerthaus Blaibach, das charakteristische Auslösergeräusch einer Handykamera zu vernehmen ist. Da hat uns die Gegenwart wieder, der uns Francel und Gall mit ihren mythologischen Erkundungen so gemütsberuhigend entfliehen lassen.

Josef Engels, 07.12.2019


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