SFS/Warner 2193600762
(69 Min., 11/2017) SACD
In seiner frühesten Kindheit gingen Charles Ives die heimischen Kirchenlieder in Fleisch und Blut über. Immerhin war er Stammgast bei den Kindergottesdiensten, die laut Ives „bei den sommerlichen Camp Meetings abgehalten wurden, die in den 1870er, 80er und 90er Jahren überall unter freiem Himmel in der Nähe von Danbury und auf vielen Farmen in Connecticut stattfanden.“ Entsprechend quellen nicht nur die Klavier- und Kammermusikwerke dieses zu Recht als Vater der amerikanischen Moderne bezeichneten Komponisten geradezu über vor alten Hymnen. Vor allem in seinen Sinfonien, besonders in Nr. 3 und 4, sind neben Zitaten von Ragtimes, Gospels, Märschen und Folk-Songs unzählige Kirchenlieder derart eingearbeitet, übereinandergeschichtet und verzahnt worden, dass daraus bisweilen undurchdringbar massige Collagen entstanden sind. Oder es fängt – wie im Eröffnungssatz der Vierten mit seinem sanften und doch so schauerlich anmutenden Chorgesang – beklemmend an zu brodeln.
Überhaupt kann man sich bei dieser überreichen Musik von Ives nicht sicher sein, welchen Weg plötzlich ein Sinfonie-Satz einschlagen wird. So schillernd und wild, experimentierfreudig und explosiv, lyrisch und kitschig, wagemutig und humorvoll geht es in diesen über viele Jahre entstandenen Sinfonien zu. Doch mit Michael Tilson Thomas hat sich ihnen einmal mehr einer der versiertesten Ives-Interpreten angenommen (bereits Ende der 1980er-Jahre hatte er die Vierte eingespielt). Mit seinem San Francisco Symphony Orchestra durchleuchtet Tilson Thomas nun das unter der scheinbar eingängigen Oberfläche wuchernde Geflecht der Sinfonien Nr. 3 und 4 erneut fast röntgengleich. Zugleich wacht er mit sicherer Hand darüber, dass diese eigenwilligen Klangorganismen nicht auseinanderbröseln. Der eigentliche Clou aber sind die insgesamt elf, aus dem 19. Jahrhundert stammenden amerikanischen Kirchenhymen, die zwischendurch vom San Francisco Symphony Chorus mit Herz und Spirit gesungen werden. Nicht nur sind sie für sich wahre Ohren- und Seelenschmeichler. Sie bilden zugleich den idealen Original-Schlüssel für das Schaffen des etwas anderen Kirchenmusikers Ives.
Guido Fischer, 18.01.2020
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