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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Johann Sebastian Bach

Die Kunst der Fuge

Salzburg Chamber Soloists, Christoph Schlüren

Aldilà Records/Naxos 98009
(139 Min., 10/2019) 2 CDs

Barocke Musik bricht nicht ab, sondern sie gelangt zu einem geregelten Ende, vorzugsweise in einer reinen Dur-Harmonie. So verlangt es das harmonikale Weltbild der Zeit, in der die Musik als Teil der Schöpfung wiederum auf den Schöpfer verweist, und ein Durdreiklang ist als „Trias harmonica perfecta“ ein wunderbares Abbild der göttlichen Trinität. Und wenn barocke Musik doch einmal abbricht, bevor alle Stimmen des Satzes zu einem solchermaßen geregelten Ende gelangen, dann steht ein solcher Bruch für etwas absolut Außergewöhnliches: Der junge Bach ließ den mittleren Satz seiner Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste“ per Fade-out aller Stimmen mit einer verzückten Figur der Sopranstimme ins Nichts verebben, um das menschliche Sterben musikalisch zu versinnbildlichen bzw. um das, was nicht versinnbildlicht werden kann – die Begegnung mit Gott – in Schweigen zu hüllen. Dass er am Ende seines Lebens allerdings mit dem letzten Kontrapunkt seiner „Kunst der Fuge“ etwas Ähnliches im Sinn gehabt hätte, ist absolut unwahrscheinlich. Freilich kann man sich fragen, warum der erblindete Meister auf dem Strebebett nicht einfach das Ende dieser Fuge statt angeblich den Choral „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ diktiert haben sollte: Im Kopf hatte er den Schluss ja sicher schon komponiert. Allerdings hat er den Choral ja vermutlich auch nicht ad hoc diktiert, denn das Stück existierte bereits etwa seit Mitte der 1740er-Jahre.
Fragen über Fragen: Die „Kunst der Fuge“ ist von vorn bis hinten ein Rätsel. Nicht nur ihr Schluss bleibt der Nachwelt verborgen, auch über die „richtige“ Reihenfolge der einzelnen Sätze streitet man bis heute. Unklar ist auch, für welches Instrument oder Ensemble der Fugenzyklus gedacht ist – ein Tasteninstrument ist mittlerweile immerhin wahrscheinlich. Bei so vielen offenen und teils dauerhaft unlösbaren Fragen ist ein beherzter Zugriff ratsam. Christoph Schlüren hat mit den Salzburg Chamber Soloists einen solchen gewagt, und das Ergebnis liegt hier als Liveaufnahme vor. Das mit vier Instrumenten pro Part besetzte Ensemble musiziert keineswegs historisierend, aber dennoch mit großer Klarheit und Transparenz, durch die die komplexe polyphone Struktur der Musik ungestört zum Hörerlebnis werden kann. Christoph Schlürens Einführungstext im Beiheft ist von ebensolcher Klarheit: Es gelingt Schlüren, mit vergleichsweise wenigen Worten den Dschungel der Kunst-der-Fuge-Rezeption zu umschiffen und dafür ein paar Grundlinien der Werkgeschichte zu skizzieren, die seinen interpretatorischen Ansatz verständlich machen. Das Besondere am Setting dieser „Kunst der Fuge“: Schlüren hat drei der mittlerweile zahllosen Vollendungen der bei Bach abbrechenden letzten Fuge ausgewählt: diejenigen von Donald Francis Tovey, Karl Hermann Pillney und Kalevi Aho. Ein genialer Kunstgriff! Es wird somit die Offenheit des Werk-Endes gewahrt, ohne dass ein im barocken Sinne unbefriedigendes Fragment präsentiert werden muss. Zwei B-A-C-H-Fugen von Robert Schumann und Reinhard Schwarz-Schilling ergänzen diesen Ansatz auf sinnvolle Weise, indem sie am Ende des Zyklus eine Auflockerung des Geschehens verursachen, die jedoch nicht als Auflösung empfunden wird. Live war das sicher ein fesselndes Erlebnis (die Presse berichtete entsprechend), für die CD geht das Konzept ebenfalls auf.

Michael Wersin, 25.04.2020


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