Chandos/Note 1 CHSA5253
(114 Min., 7/2019) 2 CDs
Warum versuchen sich nicht mehr Filmkomponisten an der Oper? Neben Erich Wolfgang Korngold, Bernard Herrmann und Howard Shore haben das nur wenige gewagt. Dabei verfügen sie über dramatische Fähigkeiten und würden sich anbieten – im Vergleich zu vielen theaterfernen Totgeburten auf unseren Bühnen. Eine Zwischenstellung nimmt der Engländer William Alwyn ein. Er ist heute bekannt für seine Sinfonien und Kammermusik, schrieb aber zwischen 1941 und 1962 auch mehr als 70 Filmmusiken. Dazu gehörten viele Streifen unter der Regie von Carol Reed und Disney-Blockbuster. 1977 hat er auch eine Radio-Oper nach Strindbergs Stück „Fräulein Julie“ komponiert. Diese Grenzüberschreitung einer schwedischen Mittsommernacht, als sich die Herrin dem Diener hingibt und später angeekelt umbringt, wurde zum opulent tönenden Zweiakter, der 2019 neuerlich in England konzertant gegeben und mitgeschnitten wurde. Warum sieht man das nicht auf der Bühne? Das fragt man sich nach diesen atemlos spannenden, atmosphärisch fesselnden zwei Hörstunden, die sich auf ein Quartett von nur vier Protagonisten konzentrieren. Sensationell packend spielt das BBC Symphony Orchestra unter seinem dringlich dirigierenden Chef Sakari Oramu. In den Hauptrollen begeistern Anna Patalong (Julie) und Benedict Nelson (Jean) mit gut getroffenen, punktgenau gesungenen Charakterporträts. Jetzt bräuchte es nur ein paar beherzte Dramaturgen, die sich über die ewigen Avantgarde-Tischregeln hinwegsetzten und lieber einen gezielten, noch dazu wenig aufwendigen Publikumserfolg programmieren. Gerade für einen Corona-Spielplan wäre diese intensiv atemlos abrollende „Miss Julie“, die sich spielend neben der Titelkonkurrenz von Bibalo, Boesmans und Rorem behauptet, ein Gebot der Virenstunde.
Matthias Siehler, 12.09.2020
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