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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Franz Schubert

Die schöne Müllerin

Ian Bostridge, Saskia Giorgini

Pentatone/Naxos PTC5186775
(61 Min., 4/2019)

Ian Bostridge gilt ja als der Philosoph unter den Sängern: Ein geisteswissenschaftlich akademisch gebildeter Interpret, der sich den Texten von Kunstliedern anders, auf breiterer Wissensbasis nähert als so manch anderer Sänger, der sich vielleicht vor allem von der Expressivität der Melodik leiten lässt und bei den Worten an der Oberfläche bleibt. In diesem Sinne hat Bostridge ja auch ein ganzes Buch über die „Winterreise“ veröffentlicht. Im Falle der „Müllerin“ allerdings vermisst der gespannte Hörer nun einen entsprechenden Ansatz – sowohl im Beiheft-Text als auch in der interpretatorischen Umsetzung. Zwar bekundet Bostridge, nach anfänglicher Skepsis habe er durchaus erkannt, dass die „Müllerin“ zumindest der Anfang des existentiell monumentalen „Spätwerks“ ist (was ist das bei einem 31-Jährigen, der wenige Tage vor seinem Tod nicht einmal ahnte, dass er schon sterben würde?), das zum Beispiel in der „Winterreise“ und den „Schwanengesang“-Liedern seine Höhepunkte findet. Aber kein Wort verliert er darüber, dass auch schon die Texte der „Müllerin“, liest man sie im Lichte des von Schubert nicht mitvertonten Prologs und Epilogs, erschütternd konsequent sind in der Darstellung eines vollkommen isolierten, einsamen Protagonisten, der in seiner real nicht existierenden Erlebniswelt gefangen ist: Der Müllerbursche ist ganz allein – es gibt in Wahrheit keine Müllerin, keinen Jäger, keinen Bach, keinen Mond, so steht es lapidar bei Müller zu lesen.
Von da aus könnte sich eine interpretatorische Umsetzung ergeben, die von der Verletzlichkeit des über seine wahre Lage getäuschten, anfangs noch naiv hoffnungsvollen Subjekts zu dessen tiefer Verzweiflung führt. Die Geistes- und Gesellschaftsgeschichte der Schubert-Zeit liefert den realen Hintergrund zu diesem Drama. Stattdessen hören wir vom ersten Lied an hypernervösen, oft unsteten oder gar flackernden Gesang, dazu auf sprachlicher Ebene Verzerrungen bei den Vokalfarben oder den Silbenlängen, die oftmals das Ausmaß des Marotten-haften annehmen. Freilich, es wird permanent dieses und jenes betont, akzentuiert, bedeutungsvoll eingefärbt und hervorgehoben. Aber die Stoßrichtung, das Konzept dahinter bleibt unerkennbar. Die wacker begleitende Saskia Giorgini reagiert erfolgreich auf jede Nuance, kann aber allein von sich aus natürlich auch nicht den roten Faden beisteuern, den der Sänger schuldig bleibt. Ratlosigkeit ist das vorherrschende Gefühl des Hörers.

Michael Wersin, 14.11.2020


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