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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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There Is A Tide

Chris Potter

Edition/Membran EDN1168
(54 Min., 5/2020)

Wenn Meister ihres Fachs ihrem Instrument fremdgehen und sich als One-Man-Band im Heimstudio bestätigen, können dabei schon recht seltsame Sachen herauskommen. So wie beispielsweise der 2013 knapp 20 Jahre nach seinem Entstehen veröffentlichte Keith-Jarrett-Alleingang namens „No End“, der streckenweise so klang, als würde die Rock-AG einer Waldorfschule „Bitches Brew“ nachspielen.
Chris Potters „There Is a Tide“ ist da aus vielen Gründen ein ganz anderes Kaliber. Zum einen hatte die Entscheidung des Saxofon-Virtuosen, alle Instrumente selbst einzuspielen – von Drums und E-Bass über Gitarre bis hin zu Klavier, Keyboards, Holzgebläse und Flöten – weniger mit Experimentierlust als mit der harschen Realität der Corona-Kontaktbeschränkungen im Mai 2020 zu tun. Es war für den dauertourenden Potter schlichtweg die einzige Möglichkeit, mit einer Band neue Musik zu machen.
Zum anderen muss aber auch gesagt werden, dass der US-Amerikaner alle Instrumente so gut beherrscht, dass das innerhalb von sechs Wochen im heimischen Musikzimmer aufgenommene Ergebnis nichts Amateurhaftes erkennen lässt. Ziemlich clever schichtet Potter in seinen Kompositionen, denen stets eine markante Basslinien-Idee zugrunde liegt, die Instrumentenstimmen aufeinander.
Das klingt dank der orchestral gesetzten Bläser und der solide-unaufgeregt gespielten Rhythmusinstrumente gleichzeitig erdverbunden groovend wie raffiniert anspruchsvoll. Stücke wie „I Had a Dream”, Rising Over You“ oder „Beneath the Waves“ lassen in ihrer Mischung aus Funk, Afro-Elementen und quirligen Themen Erinnerungen an die angesagte Fusion-Big Band Snarky Puppy aufkommen, während „Like a Memory“ aufgrund seines Bassklarinettensolos und seines Retrocharmes an die Headhunters und Bennie Maupin denken lässt.
„Oh So Many Stars“, „Rest Your Head“ und „New Life (In the Wake of Devastion)“ wiederum zeigen Potter als Autor von nonverbalen Postrock-Songs, die man sich auch gut von Radiohead-Frontmann Thom Yorke gesungen vorstellen könnte. „Drop Your Anchor Down“ entführt mit akustischer Westerngitarre, Bassklarinette und Flöte ins Grenzgebiet zwischen US-Wüste und Mexiko, „As the Moment Ascends“ bringt dann Debussys Faun, Meditations-Zimbeln und Weather Report zusammen.
Keith Jarrett ließ bei seinem Solowerk größtenteils die Finger vom Klavier. Im Gegensatz dazu macht Potter auf „There Is A Tide“ von seinen regulären Broterwerbsinstrumenten reichlich Gebrauch. Mit größter Leidenschaft und Dringlichkeit bläst er Tenor und Sopran; man meint, all den aufgestauten Frust, nicht mehr vor Publikum auftreten zu können, in berstende Energie transformiert heraushören zu können.
An diesen Stellen fällt dann schon auf, dass die Männer an den anderen Instrumenten nicht ganz das Niveau dieses Weltklasse-Bläsers erreichen. Aber wer weiß: Vielleicht gibt es in nicht allzu ferner Zukunft mal eine Live-Version dieses Albums, das aus dem Lockdown das Beste gemacht hat. Mit echten Mitmusikern und Zuhörern aus Fleisch und Blut. Man wird ja noch träumen dürfen.

Josef Engels, 02.01.2021


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