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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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John Bull, Heinrich Scheidemann u. a.

„Melancholy Grace“ (Werke für Cembalo)

Jean Rondeau

Erato/Warner 9029500899
(80 Min., 10/2020)

Es ist oftmals ein großer Gewinn, wenn ein programmplanerisch ambitionierter, über Musik tief nachdenkender Interpret sein Publikum in einem selbst verfassten Beihefttext an seinen Reflexionen über Musik teilhaben lässt. Es ist in diesem Zusammenhang jedoch eine offenbar nicht zu unterschätzende Herausforderung, für die mehrsprachige Präsentation eines solchen persönlichen Textes, der tiefer als gewöhnlich in die Materie einsteigt, ausreichend fachkundige Übersetzer zu finden. Im vorliegenden Fall ist das definitiv nicht gelungen. Im Vergleich der partiell unverständlichen deutschen Version mit der originalen französischen kommt die Ahnungs- oder auch Ratlosigkeit des nicht ausreichend musiktheoretisch gebildeten Übersetzers deutlich zum Vorschein, und das ist höchst bedauerlich, denn man darf getrost bezweifeln, dass die interessierte Hörerschaft mehrheitlich die detaillierte vergleichende Detektivarbeit zu vollbringen in der Lage ist, die benötigt wird, um einerseits Jean Rondeaus Betrachtung von John Dowlands Melodie „Flow, my tears“ (sie bzw. ihre Intervallstruktur ist das Bindeglied zwischen den Stücken dieser CD), andererseits seine Überlegungen zu den von ihm verwendeten historischen Stimmungen zu begreifen. Das ist mehr als schade, denn die überaus intelligente und kühne Programmzusammenstellung und die kreative Anwendung unterschiedlicher historischer Stimmungen machen zusammen mit der brillanten Interpretation der Werke die bemerkenswerte Qualität dieser CD als „Gesamt-Kunstwerk“ aus. Von Frescobaldi bis Scheidemann, von Gibbons bis Sweelinck reicht die Spannweite dieser kaleidoskopartigen Zusammenstellung von europäischer Musik fürs Tasteninstrument, entstanden um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Virtuose Tänze, rhetorisch inspiriert beginnende Toccaten, die den vokalen „stile recitativo“ nachahmen, strenge polyphone Formen wechseln einander ab, und immer wieder begegnen wir in den soggetti dieser Stücke dem hochexpressiven Intervall der kleinen Sexte, dem Jean Rondeau in seinem Einführungstext auf beinahe philosophische Weise nachspürt. Die für unsere Ohren skandalöse Härte von nicht gleichstufig gestimmten Skalen gibt den fesselnden Satz-Strukturen der Stücke eine eigene Würze, die Verwendung zweier verschiedener Instrumente (eine Cembalo-Kopie, ein originales Virginal) sorgt für klangliche Abwechslung. Eine großartige CD, die die Hörerschaft auf erfreulich vielen Ebenen – zwischen „emotional“ und „intellektuell“ – anspricht.

Michael Wersin, 22.05.2021


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