Der 26-jährige Jan Lisiecki gehört – neben Blechacz, Grosvenor, Trifonov & Co. – zu den wohl fünf besten Pianisten der jüngeren Generation. Eigensinn, sogar Stachligkeit der Nebenstimmen, Überraschungsfähigkeit und Spontaneität (siehe Beethoven-Konzerte) heben ihn über das Gros seiner Kollegen hinaus – weit mehr als sein Image als Mädchenschwarm dies erwarten ließe. Chopin, Lisieckis polnischen Wurzeln entsprechend, gehört zum Kernbezirk seiner Fähigkeiten.
Dessen Nocturnes betrachtet er, wie er im Booklet ausführt, als nicht zu schwer, um junge Pianisten von früh an zu begleiten. Anschließend gilt es, meint Lisiecki, „ihre verborgenen Geheimnisse zu ergründen“, offenbar ohne die Werke zu intellektualisieren oder virtuos zu überformen. „Einfachheit ist das höchste Ziel“, zitiert Lisiecki den Komponisten. Damit ist das überaus dezidierte Programm dieser Gesamtaufnahme eng umrissen.
Ob Einfachheit allerdings bedeutet, Bedeutungsüberhöhungen zu vermeiden, sich nicht übertrieben aufzuspulen und „den Ball flach zu halten“, so wie Lisiecki dies tut, wäre dennoch eine andere Frage. Einfachheit könnte ja auch bedeuten, die Werke radikal auf ihren gesanglichen Kern einzukochen, um sie dadurch in gesteigerter Dringlichkeit zum Leuchten zu bringen. Genau das gelingt Lisiecki bei diesem Doppel-Album aber leider nicht.
Leise, nachgiebig und beinahe kernlos, ja blauäugig und teilweise läppisch durchmisst Lisiecki – bei aller Delikatesse – die schlichten, aber niemals seichten Nachtstücke. Finsternisse wirken matt und von zu wenig Blitzen durchhellt. Der Pianist scheint sich selbst in eine milde Umnachtung versetzt zu haben und hält sowohl Hits wie das Nocturne Es-Dur op. 9/II wie das existenziellere op. 55/II – bei oft sehr langsamen Tempi! – zu stark auf Distanz. Schade drum. Sowohl hinter Chopin als auch hinter sich selbst bleibt Lisiecki hier zurück.

Robert Fraunholzer, 14.08.2021

---

Diese CD können Sie kaufen bei:

---

---

---

Kommentare

Kommentar posten

Für diese Rezension gibt es noch keine Kommentare.

---