Das ging schnell: Ende 2020 wurde „Der Zorn Gottes“, Sofia Gubaidulinas jüngstes, großes Orchesterwerk, mitten im Pandemie-Lockdown in Wien uraufgeführt. Ein Jahr später, passgenau zum 90. Geburtstag der bedeutendsten lebenden Komponistin, erlebt es bei der Deutschen Grammophon seine luxuriöse Album-Premiere mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Andris Nelsons. Bisher schien der lettische Dirigent eher ein pflichtschuldiger Moderne-Absolvierer. Bei ihr, die gerade für drei Spielzeiten an der Pleiße als Composer-in-Residence fungiert, gerät er aber ins Schwärmen über „Kraft, Kunstfertigkeit und Geistesstärke“, besonders über die „spirituelle Kraft“ der Tatarin. Und ja, es spendet durchaus auch Trost, ihr heiliges, auch reinigendes Klangdonnerwetter, zudem Komponisten-Hommage für Ludwig van – „An den großen Beethoven“. Dieser „Zorn Gottes“ macht seinem Namen mit reinigendem Jericho-Bläserdonner von allein vier Wagnertuben und zwei Basstuben, vehementen Streicherfuriosi und gleißenden Dies-Irae-Kaskaden alle Ehre. Diese domestizierte Aggression, gestisch, kontrapunktisch, vielschichtig, raffiniert, leuchtend, zivilisatorisch enthemmt, sie tut so gut! Marschtrommel und großer Gong lassen als tönende Apotheose den thronenden Christus des Jüngsten Tages erscheinen. „Gott ist zornig. Er ist zornig, böse auf uns Menschen, auf unser Verhalten. Wir haben Schuld auf uns geladen!“, raunt dazu die Gubaidulina über ihr „einfaches Gebet“, das auch Bezüge zur Neunten nicht scheut. Ähnlich stark und schön: Gubaidulinas gleißendes 3. Violinkonzert für den elegant phrasierenden Vadim Repin „Dialog: Ich und Du“ von 2018 sowie das fluide Orchesterstück „Das Licht des Endes“ von 2003. Packender kann Gegenwärtigkeit nicht klingen.

Matthias Siehler, 08.01.2022

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