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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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„The 7th Hand“

Immanuel Wilkins

Blue Note/Universal 3832650
(58 Min., k. A.)

Immanuel Wilkins’ „Omega“ galt nicht nur als eines der wichtigsten Jazz-Alben des Jahres 2020, sondern wurde in den Staaten auch als das stärkste Debüt eines jungen Improvisators seit langem gefeiert. Da fragt man sich natürlich als in den Corona-Varianten geschulter Zeitgenosse: Was soll nach „Omega“, dem Ende des griechischen Alphabets, jetzt noch kommen? Die Antwort des 1998 in Philadelphia geborenen Altsaxofonisten ist wie sein Spiel und Kompositionsstil klar und mehrschichtig zugleich: Das „Alpha“ der afroamerikanischen Kultur – die Kirche und die von den Vorfahren übernommene Spiritualität der Ekstase.
Auf „The 7th Hand“, dessen Titel einen biblischen Bezug birgt, erzählt Wilkins konsequent die Geschichte einer mit dem totalen Kontrollverlust einhergehenden Erleuchtung. Man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man den Aufbau des Albums mit der Dramaturgie eines Gottesdienstes der schwarzen Baptistengemeinden im Süden der USA vergleicht. Nach einem schwungvollen Auftakt („Emanation“), in dem Wilkins Altsax wie ein mit allen Wassern des modernen Jazz gewaschener Prediger die Gemeinde einschwört, wird zunächst das Tempo für eine ruhige Seelenerkundung herausgenommen.
Wilkins und sein junges Quartett gehen dafür zurück zu den Wurzeln. Das gemeinsam mit dem Farafina Kann Percussion Ensemble eingespielte „Don’t Break“ gedenkt des afrikanischen Erbes der Yoruba-Religion, während das balladeske „Fugitive Ritual, Selah“ wie ein schmerzlich-schönes modernes Kirchenlied klingt und das cool swingende „Shadow“ Wayne Shorter, dem Evangelisten des neuen Jazz-Testaments, huldigt.
Dann aber, mit der Hinzunahme der Flötistin Elena Pinderhughes, beginnt allmählich die Wandlung. Im sakral-gemessenen „Witness“ flattert die Flöte taubengleich wie der personifizierte Heilige Geist durchs Kirchenschiff, um dann am Ende des ungemein dichten „Lighthouse“ mit den anderen Instrumenten in eine spirituelle Hypnose zu verfallen, wie man sie auch aus John Coltranes „Love Surpreme“-Suite kennt.
Im folgenden, 26 Minuten langen „Lift“, regiert dann die uneingeschränkte Entgrenzung. Pianist Micah Thomas türmt Blockakkorde auf, die so hoch sind wie der Berg Sinai, Bassist Daryl Johns und Drummer Kweku Sumbry verfallen in prophetische Raserei, der sich komplett selbst verausgabende Wilkins schließlich spricht im wahrsten Sinne des Wortes in Zungen – in denen von Ornette Coleman und Albert Ayler und anderen Heiligengestalten des Free Jazz. Ästhetisch und spirituell wird „The 7th Hand“ so zu einer gleichermaßen fordernden wie reinigenden Erfahrung.

Josef Engels, 29.01.2022


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