Jeder ambitionierte Dirigent benötigt heute einen eigenen Mahler-Zyklus. Der in Leningrad geborene Weltbürger Semyon Bychkov aber ließ sich Zeit, bis er im Frühjahr 2022 mit der von ihm seit 2018 betreuten Tschechischen Philharmonie sein erstes Mahler-Album mit der Vierten veröffentlichte und dafür exzellente Kritiken erhielt. Jetzt erscheint zum 70. Geburtstag Bychkovs die noch bekanntere Fünfte, von der es mittlerweile über 200 Einspielungen gibt, und noch immer hinterlassen da die Mahler-Propheten des letzten Jahrhunderts wie Leonard Bernstein oder Georg Solti den stärksten Eindruck.
In dieser zerklüfteten, überaus komplexen, rein instrumentalen Sinfonie schlägt Mahler nach den „Wunderhorn“-Sinfonien plötzlich ganz neue, realistische Töne an und denkt auch das Beethovensche Modell („per aspera ad astra“) in einer drastischen Weise weiter. Auch Bychkov richtet den Fokus mit dem wunderbar „kakanisch“ klingenden, tschechischen Traditionsorchester auf dieses „innere“ Programm einer hoffnungslosen, pessimistisch-nostalgischen Weltschilderung, und bleibt seiner eher elegischen Grundlinie mit breiten 71 Minuten Spielzeit treu. Er scheut vordergründige Effekte und achtet darauf, die innere Komplexität und „Vielstimmigkeit“ des Werks differenziert auszuleuchten und zugleich in einen plastischen, sanft fließenden Klangstrom einzubinden. So wirkt die wüste Dramatik der ersten beiden Sätze etwas gedämpft, aber bruchlos und homogen eingehüllt in die Grundstimmung des Mahlerschen Weltschmerzes, der wie ein roter Faden tief drin den auseinanderdriftenden Koloss zusammenhält, so dass, nach der zärtlichen Liebeserklärung des für Alma eingeschobenen Adagiettos im pastoralen Finale Hoffnung aufkeimt. Am meisten fasziniert aber der wunderbar ausgehörte, beseelte, geradezu authentische Mahler-Klang des Prager Toporchesters.

Attila Csampai, 03.12.2022

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