Der luxemburgische Pianist und Komponist Francesco Tristano ist ein Provokateur und in diversen Musikwelten aktiv. Er wechselt gern unvermittelt zwischen Klassik, Techno, Jazz und Neuer Musik und irritiert damit nicht nur die Klassik-Fans. Seit vielen Jahren gilt Bachs Musik seine besondere Vorliebe, und so widmete er sein erstes Album vor 20 Jahren den „Goldberg-Variationen“. Jetzt hat der 41-Jährige sogar ein neues Ensemble gegründet, um seine ganz spezielle, wahrlich aufregende Interpretation von drei Klavierkonzerten Bachs auf Tonträger zu bannen: Das Bach Stage Ensemble umfasst elf Streicher, die unter der Leitung des jungen Franzosen Léo Margue dem stehend (!) auf seinem großen Yamaha-Flügel spielenden Tristano mit rabiater Spielfreude durch Bachs polyphones Stimmengewirr folgen, und diese 300 Jahre alten Strukturen derart unter Strom setzen, als seien sie gerade komponiert worden. Tristano gibt dabei mit pedalloser, staccatoartig hämmernder Prägnanz den rhythmischen Antreiber, sodass der Eindruck einer unaufhaltsam in Gang gesetzten Maschine, eines pulsierenden Seelenmotors entsteht, der Bachs Musik mit attackierender Lebenslust ins 21. Jahrhundert katapultiert. Diese radikale Abwendung von jeglicher Gefühligkeit gilt auch für die mit kindlicher Schlichtheit asketisch vorgetragenen langsamen Sätze, die aber nichts von ihrer Spiritualität einbüßen. Für alle drei Konzerte hat Tristano „aktuelle“ Kadenzen bei lebenden Komponisten in Auftrag gegeben, und diese reißen Bachs heile Strukturen abrupt ins Chaos unserer Tage: Aber seine zeitlose Seelen-Musik übersteht auch diesen Paroxysmus unversehrt und stärkt uns durch ihre intakte Humanität: Es ist die modernste Musik aller Zeiten.

Attila Csampai, 22.04.2023

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