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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Was lange währt, wird endlich gut: Frieder Bernius und sein "Kammerchor Stuttgart" haben Bachs „h-Moll-Messe“ natürlich schon seit Urzeiten im Repertoire, und konkretere Pläne für eine Aufnahme dieses Stücks gab es u. a. vor 15 Jahren schon einmal: Damals allerdings entschied sich das Label Sony, für das Bernius in jenen Tagen produzierte, statt seiner Interpretation lieber diejenige des "altersweisen" Carlo Maria Giulini zu dokumentieren – aus aufführungspraktischer Sicht ein grandioser Missgriff, denn Giulini, der die Meinung vertrat, Bachs Musik sei "überhaupt nicht virtuos", wartete im Zeitalter der historisierenden Herangehensweise mit einer elendig langsamen, terassendynamisch durchstrukturierten Steinzeitversion auf. Nun endlich also kommt Bernius zum Zuge, und er hat, obwohl die historisierende Aufführungsgeschichte der h-Moll-Messe inzwischen weiter vorangeschritten ist, tatsächlich Neues, Besonderes zu bieten: Es ist ihm gelungen, die routinierten Instrumentalisten seines "Barockorchester Stuttgart", die Bachs h-Moll-Messe natürlich in verschiedensten Formationen landauf, landab zum Besten geben, zu einem neuen Aus-Hören und Aus-Spielen der vertrauten Partitur zu bewegen: Simple Begleitfiguren entwickeln plötzlich ein Eigenleben, dem Hörer vertraute Motive erscheinen in neuem Licht, die einzelnen melodischen Linien erwachen mit bisher unbekannter Prägnanz und Dezidiertheit zum Leben, das Streichercorpus entwickelt ein ganz spezielles, ungewohnt warmes Timbre, im Zusammenspiel verschiedener Instrumentengruppen kommen ganz neue Farben zustande. Kurzum: Bernius macht die orchestrale Ebene der h-Moll-Messe zu einem ganz originellen Erlebnis, das auch dem Kenner des Werks neue Einsichten zu vermitteln geeignet ist – und er steigert auf diesem Wege noch einmal die seit Beginn der historisierenden Aufführungspraxis ja ohnehin ins Zentrum gerückte rhetorische Aussagekraft der Musik. Auf vokaler Ebene allerdings kultiviert Bernius weiterhin sein immer wieder einmal durchbrechendes grundsätzliches "Misstrauen" gegenüber der Vox humana: Im peinlichen Bemühen um eine weitestgehend schlackenfreie und homogene Darbietung zieht er den Gesang oft allzu weit auf die instrumentale Seite hinüber, so dass er allenfalls als ein dem Orchester gleichberechtigtes Element in den Gesamtklang eingeht. Das hat in gewissem Sinne sicher seine Berechtigung, denn der menschliche Gesang ist vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Musiktheorie Teil der "Musica instrumentalis", ohne besonders hervorgehoben zu werden; allerdings bildet sich seit der Renaissance mit dem Aufkommen der musikalischen Abbildung textlicher Inhalte (zunächst in Gestalt von Madrigalismen, später mittels musikalisch-rhetorischer Figuren) zusätzlich der Begriff der „Musica vocalis“ heraus, denn schließlich ist ja allein der Gesang im eigentlichen Sinne sprachbegabt, indem er die Textworte tatsächlich zu artikulieren vermag. Dadurch wird er in der geistlichen Musik zum prominenten Träger des Wortes der Verkündigung. Dieser Aspekt scheint mir in Bernius’ "h-Moll-Messe" nicht mit aller Konsequenz umgesetzt zu sein, und zwar namentlich in den hohen Stimmen sowohl des Ensembles als auch des Solistenquartetts: Gleich im "Christe"-Duett z. B. ist kaum etwas von jenem textgezeugten vokalen Jubel zu hören, der etwa in Gardiners oder Parrotts Einspielung an dieser Stelle voll durchschlägt, und auch etwa in den zentralen Chorsätzen des "Credo" fehlt es besonders auf Sopran- und Altebene an wirklich bezwingender Verdeutlichung der Wortgeneriertheit der einzelnen Linien. Für das – übrigens dennoch eindrucksvolle – Gesamtergebnis bedeutet dies, dass die konzertante Ebene der Musik – vor allem auch in den koloraturenreichen Jubelsätzen – hervorragend und teils mit bisher ungekannter Brillanz zur Geltung kommt, dass jedoch andererseits das große Potential des bewährten "Kammerchor Stuttgart" nicht voll ausgeschöpft wird: Etwas mehr Vertrauen zur urmenschlichen Ausdrucksform des Singens mit all ihren Unwägbarkeiten, aber auch all ihren faszinierenden, einzigartigen Möglichkeiten, wäre hier sicher hilfreich gewesen.

Michael Wersin, 01.09.2007


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