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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Johann Sebastian Bach

Cellosuiten Nr. 1-6

Gavriel Lipkind

edel Classics 00161320 LP
(2006) 3 CDs, 3 SACDs

Die Hymnen, die dem heute 30-jährigen israelischen, bei Frankfurt lebenden Cellisten Gavriel Lipkind von Kindheit an gesungen wurden und werden, gleichen mitunter einem verzückten Lallen. Vor allem bei den jetzt vorgelegten, in Lipkind’scher Eigenproduktion und Kooperation mit "edelClassics" aufgenommenen Einspielungen des Bach’schen Kosmos der sechs Solosuiten hören viele geradezu "Offenbarungen".
Gehen wir es nüchterner an: Außergewöhnlich ist in der Tat vieles an dieser Veröffentlichung, will sie doch schon mit ihrer Aufmachung eine Art synästhetisches Gesamtkunstwerk sein. Die drei SACDs, eingehüllt in pergamentartige Folien, sind Teil einer dreifach verschachtelten Mappe aus lederähnlichem Material, die nicht nur – lobenswerterweise – mit Blindenschrift aufwartet, sondern auch – leider – recht stark riecht! (Den Wunsch mancher Hörer, es möge doch nur noch solche toll verpackten CDs geben, kann der Rezensent daher nicht folgen, vielmehr sollte man die Hülle schleunigst wieder verpacken, auf dass der Hör- nicht allzu sehr vom Riechsinn gestört wird.)
Nicht minder ungewöhnlich "entlarven" sich (im wörtlichen Sinne) die beiden Booklets, von denen das streichholzschachtelgroße aus einem zigfach gefalteten Poster besteht. Es enthüllt nicht nur das ernste Denkerkonterfei Lipkinds, sondern auch dessen Schema zur religiösen Dreifaltigkeitsgrundierung der sechs Suiten. Im eigentlichen Booklet erläutert Lipkind nicht nur diese Trinitätskonnotationen, hier gibt er en gros "A Personal Reassessment" zum Bach’schen Oeuvre, das neben kundigen Informationen auch reichlich Esoterisches enthält, das den Leser bzw. Hörer auf "innere Stimmen" und ähnliches aufmerksam machen soll.
Da hält sich der Kritikus gemäß der Maxime, wonach Geruchs- und religiöse bzw. esoterische Empfindungen nur bedingt streitbar sind, tolerant zurück und kommt stattdessen mit einem Zitat des letzten großen deutschen Staatsphilosophen Helmuth Kohl – "Entscheidend ist, was hinten rauskommt" – zum akustischen Teil des Lipkind’schen Gesamtkunstwerkes. Der Begriff "subjektivistisch" umschreibt dessen Bachsicht nur stark untertrieben. Hätte Lipkind einen autobiografischen Roman geschrieben, der Leser erführe in nahezu jeder Zeile, wie sich der Held gerade fühlt und welcher Weltschmerz ihn gerade umtreibt. Dass es – gottlob – dabei auch Momente der unbeschwerten Freude gibt – getragen von einem federndem Rhythmus und stupender, makelloser Technik –, sei nicht verschwiegen. Allerdings irritiert die Art, wie sich Lipkind in den Préludes und Gigues freut, denn penetrant werden die melodische Linien durch Ausrufungszeichen mittels plötzlichen Dehnungen, Tempowechseln und Generalpausen zerstückelt. Die Vorstellung von einem organischen Fließen jedenfalls, das Truls Mørk letztes Jahr so betörend schlank und grazil angestimmt hat, mag da kaum aufkommen.
Ganz zu schweigen von der behäbigen Unmäßigkeit der Sarabanden, die Lipkind zu monströsen Gefühlsausbrüchen nutzt, in denen es auch an romantizistischen Glissandi, absterbend-zerbröselnden Tönen und auf- und zerwühlenden Arpeggien nicht mangelt. Zwar betört der ungemein sonore Ton des 1702 erbauten Cellos, aber das ändert nichts an der allzu fragwürdigen Umdeutung der protestantisch-luziden Bach’schen Suiten zu Lipkind’schen Gemütsergüssen. Da mag auch "edelClassics" noch so sehr seinem Namen alle Verpackungsehre machen.

Christoph Braun, 01.09.2007


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