Was zahlreiche Kollegen heimlich denken und fühlen, gebe ich unumwunden zu: Nachdem ich in den achtziger Jahren noch auf jeden Newcomer aufmerksam wurde, ließ mein Interesse an Young Lions im Verlaufe der Neunziger merkbar nach. Wir lobten die Jungbopper für ihr untadeliges Spiel, legten aber dann doch privat ihre Vorbilder Cannonball oder Coltrane, Mingus oder Monk auf, wenn wir dringend wieder jene Gänsehaut bekommen wollten, die sich bei den Jüngeren nicht einstellen wollte.
Eine Gänsehaut ist nicht nur das leichte Kribbeln auf dem Rücken, es ist ein Vibrieren, dass bei großer Musik etwa den Scheitel, die Herzregion, den Bauch oder gar den ganzen Körper durchflutet. Diese Gänsehaut ist stets ein untrüglicheres Beweismittel als unser analytisches Instrumentarium.
Joshua Redman war freilich schon immer ein Ausnahmetalent unter den Jüngeren, aber erst heute kann ich ihm für die prächtige Gänsehaut danken, die sich bislang im Konzert und bei seinen früheren, durchaus gelungenen Alben kaum bemerkbar machte. Wenn Redman selbst sagt, dieses Album sei tiefer, reifer und persönlicher als seine früheren Werke und zudem eine spirituelle Platte, dann ist dies mehr als eine Werbefloskel. Vielleicht hängt es bei ihm tatsächlich mit seiner Sinnsuche zusammen, die bei anderen Kollegen oft nur Lippenbekenntnis ist, weil es eben mit zur Nachfolge Coltranes gehört.
Ohne Zweifel ist Redman jetzt mit einunddreißig ein überragender Meister unter den lebenden Saxofonisten – selbst John Coltrane war es erst in diesem Alter. Mit ansprechender Soundpalette (eher verhalten auf dem Sopran, mild und quakig auf dem Alt, nuancenreich von butterweich bis angeschärft auf dem Tenor), keinen Ton verschwendend, mit keinem geizend, sehr unterschiedlichen Stimmungen gleichermaßen gewachsen, gelang Redman der sprichwörtliche große Wurf, bei der die in der konsequenten Entwicklung der Ideen zum Ausdruck kommende Gestaltungskraft fasziniert. Und das mit dem Pianisten Aaron Goldberg, dem Bassisten Reuben Rogers und dem Drummer Gregory Hutchinson - einem Quartett, das, wie es sein sollte, als ein Organismus schwingt.
Was hat uns Dewey Redmans Sohn zugeworfen? Eine Fülle ansprechender Originals; einige von ihnen sind vor allem metrisch recht schwierig - was man ihnen aber nicht anhört, da Schwierigkeit hier kein Selbstzweck ist. Höhepunkte sind die tief berührende Ballade "Neverend" und "Leap of Faith", ein etwas östlich anmutendes Stück, dessen Einleitung Redman und der Gast-Tenorist Mark Turner intonieren, als wären sie zwei glückselige Muezzine. Wer da trotzdem keine Gänsehaut bekommt, sei getröstet. Musik kann man, wie Rundfunk, nur empfangen, wenn man auf die gleiche Wellenlänge eingestellt ist. Doch die Frequenz des Senders Redman wird breiter und breiter.
Marcus A. Woelfle, 13.04.2000
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