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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Frank Martin

Le vin herbé

Sandrine Piau, Steve Davislim, RIAS Kammerchor, Scharoun Ensemble, Daniel Reuss

harmonia mundi HMC 901935.36
(112 Min., 2/2006) 2 CDs

Musste sich die Musik am Beginn des 20. Jahrhunderts zwangsläufig der Atonalität zuwenden? War die Welt der grundtonbezogenen, dur-moll-tonalen Harmonik tatsächlich so erschöpfend bis in jeden Winkel erforscht, dass man zwangsläufig zum Anachronisten wurde, wenn man daran festhielt? Arnold Schönberg, eine intellektuelle Lichtgestalt mit starkem Charisma, vermochte diese Sichtweise wohl zu suggerieren, aber bei weitem nicht in den Rang der Allgemeingültigkeit erheben; das besorgte die Generation seiner Nachfolger, ihn dabei selbst hinter sich lassend, und vor allem die deutsche Nachkriegsmusikästhetik. Wer im 20. Jahrhundert noch tonal komponierte, galt als Reaktionär. Seit einigen Jahren indes tauchen immer mehr Werke von Komponisten auf, die sich dem Atonalitätsdiktat nicht gebeugt haben, und es formiert sich auf dem CD-Markt Stück für Stück eine wahre Wunderwelt vergessener Werke von vergessenen Komponisten, die keineswegs anachronistisch oder abgestanden klingen, sondern eine kaum überschaubare Vielfalt von Möglichkeiten tonalen Komponierens offenbaren, die sämtliche Thesen vom Tod der dur-moll-tonalen Harmonik zu widerlegen im Stande ist. Frank Martins "Le vin Herbé" ist eine der jüngsten Entdeckungen auf diesem Gebiet: In einer Art Kantate hat der Schweizer um 1940 den "Tristan und Isolde"-Stoff vertont, wobei er einige Kapitel des nahe an den historischen Quellen verwirklichten Romans "Tristan et Iseut" von Joseph Bédier, einem französischen Mediävisten, als Libretto zugrunde legte. Das Werk ist mit Chor, einigen Soli, kleinem Streicherensemble und Klavier besetzt und vermeidet damit schon besetzungstechnisch jegliche Nähe zu Wagners soghaft-suggestiver Version des Tristansujets. Überhaupt ist Martins "Vin herbé" ein intimes, über weite Strecken nach innen gewandtes, wenngleich keineswegs undramatisches Werk. Die geschmeidig-plastische Tonsprache (Martin verwendet sogar Zwölftonreihen, ohne sich jedoch von ihnen "gängeln" zu lassen) reagiert harmonisch und motivisch stark auf den Text, versinnbildlicht diesen auf unmittelbar plastische Weise, ohne jedoch ihre Integrität aufzugeben. Kurzum: Ein überlegenes Meisterwerk, das geeignet ist, den Hörer durch seine innere Geschlossenheit und Stringenz ganz in seinen Bann zu ziehen – eine musikalische Welt von höchster Subtilität, Delikatesse und Reizesfülle. Der RIAS-Kammerchor unter Leitung von Daniel Reuss widmet sich dem Chorpart mit gewohnter Präzision bei hoher klanglicher Noblesse und Differenziertheit. Sandrine Piau, stimmlich mittlerweile doch sehr gereift und nicht mehr durchgehend ganz schlackenfrei, gibt eine schwermütige, schwerblütige Iseut, Steve Davislim einen ausdrucksstarken, engagierten Tristan. Das Scharoun-Ensemble agiert tadellos klangschön und organisch in perfekter Homogenität und Ausgewogenheit als gleichberechtigter, bewusst bedeutungstragender Partner von Chor und Solisten.

Michael Wersin, 01.09.2007


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