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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Ludwig van Beethoven, Béla Bartók, Franz Schubert u.a.

Klavierwerke, Kammermusik, Klavierkonzerte

András Schiff, Sächsische Staatskapelle Dresden, Budapest Festival Orchestra u.a.

Warner Classics 2564 69967-5
(600 Min., 1996 - 1999) 9 CDs

Das Enzyklopädische hat Konjunktur. Vor allem und in zunehmendem Maße beim gegenwärtig etwas schmalbrüstig anmutenden Label Warner Classics, das fast tatenlos mit ansehen muss, wie die Konkurrenz sich einen nach dem anderen hippen Musiker schnappt im Haifischbecken medialer Aufmerksamkeit und ihn, nicht selten erfolgreich, durch die Promotionsmangel dreht, Talkshow inklusive. (Will sagen: Inhalte werden immer weniger diskutiert in der Branche, zumindest bei den Big Five.) Warner reagiert mit Sammlerlust. Wer erinnert sich nicht an die diskografischen Barenboimfestspiele, sprich: die Gesamtaufnahmen der sämtlichen Sinfonien Bruckners und Beethovens sowie des kompletten "Rings". Oder an die Interpretenserien, für die alle Regale in den Schallplattenarchiven durchstöbert wurden, um ein möglichst umfassendes Porträt des Künstlers als vielseitige Persönlichkeit zu ermöglichen. Schlecht ist die Idee keineswegs. Denn im besten Fall gelingt das Porträt, weil es facettenreich ist. So auch im vorliegenden Fall. Zwar muss man András Schiff einer breiten musikinteressierten Öffentlichkeit wohl kaum mehr vorstellen; der ungarische Pianist, Jahrgang 1953, ist seit Jahrzehnten im Geschäft. Seine Sonatenzyklen (gerade meißelt Schiff an Beethoven) und (Gesamt-)Aufnahmen der Klavierwerke Schuberts, Haydns, Bachs und Mozarts haben ihm weltweit erhebliche Anerkennung verschafft; insbesondere Schiffs Schubertexegese ist uns als fulminant in Erinnerung. Umso überraschter ist man, hört man in nun in den beiden genialisch-tiefschürfenden Trios des Wiener Tragöden an der Seite von Yuuko Shiokawa (Violine) und dem Cellisten Miklós Peréniy. Fast wie von ferne ist in diesen Aufnahmen das Klavier zu vernehmen, ist es an Dezenz (ist es Schüchternheit gar?) kaum zu überbieten, überlässt András Schiff über weite Strecken den Streichern das Terrain, fügt nur seinen Part ein, sieht sich anscheinend mehr dem Ganzen verpflichtet als in der Aufgabe des Federführenden. Das birgt Probleme dort, wo Schubert (was zu seinen Grundprinzipien zählt) aus den Konventionen des gepflegten Gesprächs ausbricht, wo er im wahrsten Sinne des Wortes ekstatisch sich gebärdet: wo er außer sich gerät. Schiff gestattet ihm dieses Außer-Sich-Sein nicht, als ob er den Ausbrechenden besänftigen, vielleicht gar fesseln wollte oder ihn zur Raison bringen: zum Bei-Sich-Sein. Das Abgründige der Trios fehlt deswegen, es klingen beide Stücke wie ein Leben ohne Todesahnung, oder wie eine Kultur, die ohne Naturgewalt auskommt. Man kann dahinter nur interpretatorische Absicht vermuten (ob sie nun gefällt oder nicht, liegt daran, ob man gleichsam die Kultur der Natur vorzieht oder umgekehrt), denn in den beiden ausgewählten Kammermusikkompositionen von Dvorák, dem Klavierquintett Nr. 2 in A-Dur op. 81 und dem Klavierquartett Nr. 2 in Es-Dur op.87 zwei benachbarten Werken also, zeigt sich ein völlig anderes, auffällig und wohltuend vielfarbigeres Bild: Hier waltet, neben der bei Schiff stets anzutreffenden Geste des Erhabenen, Leidenschaft in Reinkultur, hier wogt und wallt das Geschehen hin und her, hier sind die Kräfte nicht gebündelt, sondern enthemmt. Und waltet Schiff als Primus inter pares (die Partner sind die Mitglieder des famosen Panoch Quartetts), mit dominierender, virtuoser, ja exzessiver Pranke zuweilen. Liegt ihm diese Musik vielleicht doch näher am Herzen, und Schubert näher am Verstande? Man muss es vermuten. Um die Gewissheit hinzuzufügen, dass bei den drei Klavierkonzerten Bartóks, die Schiff gemeinsam mit dem Budapest Festival Orchestra unter Leitung des exzellenten Ivan Fischer aufgenommen hat, beides der glücklichen Fall ist. Meisterlich mutet diese Interpretation in ihrer analytischen Scharfsicht an, in ihrer Transparenz, aber mehr noch in ihrer rhythmischen Stringenz und klanglichen Unbedingtheit. Alles Romantische ist in diesen Werken getilgt, und eben das verdeutlichen Schiff und Fischer in jedem Takt. Und: Das Gespenstische, der nachgerade existenziell bedrohliche Tonfall der Klavierkonzerte (nur im dritten ist das Diktat des Metrischen in Teilen ein aufgelockertes, gibt der Komponist der Melodie zumindest einen kleinen Raum zum Üben) wird hier mit einer Trennschärfe und mit einer metallischen Kälte formuliert, die den Hörer vor allem wegen ihrer unerschütterlichen Präzision erschaudern lässt. Kurzum: Ein Meilenstein der Bartókinterpretation ist damit gesetzt. Gleiches darf man mit Fug und Recht über Schiffs Ausdeutung der fünf Klavierkonzerte Beethovens behaupten. An der Seite der Staatskapelle Dresden und Bernard Haitink (der für sich wohl doch in Anspruch nehmen darf, einer der profundesten Kenner dieser Konzerte zu sein, so häufig hat er sie aufgenommen mit verschiedenen Pianisten) gelingt Schiff eine vitale, blühende, passagenweise furiose und im Schiller’schen Sinne idealistische Darstellung, die nie ins Didaktische, Fingerzeigende abgleitet, sondern ganz im Gegenteil von einem stürmischen Drang und von einer geradezu romantischen Überschwänglichkeit geprägt ist und somit – soweit wollen wir uns vorwagen – die Intentionen des Komponisten auf den Punkt trifft. Schade nur, dass Schiff bei der "Appassionata" wieder seinem Hang zur nüchternen strukturellen Analyse verfällt und den Titel dieser Sonate vergessen zu haben scheint.

Jürgen Otten, 01.09.2007


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