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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Anton Bruckner

Sinfonie Nr. 9 (Fassung von 1894)

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Sir Roger Norrington

Hänssler Classics/Naxos 93273
(52 Min., 7/2010)

Wer dieser Tage ein TV-Porträt von Eugen Jochum zu dessen 25. Todestag sah, der erhielt ein wahrlich beeindruckendes Bild auch von Bruckner. Und zwar als pathosschwerem Tonsetzer mit sakraler Aura – so wie er bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts als alleingültiger anerkannt wurde. Da schweift die Kamera, untermalt von breiten Klängen der Neunten, (scheinbar) dem „lieben Gott“ gewidmeten Sinfonie, durch die grandiose Basilika von Ottobeuren, auf deren mächtiger Riepp-Orgel der junge, im unterallgäuischen Babenhausen geborene, zutiefst gläubige Eugen 1915 präludiert hatte.
Fast hundert Jahre später hat das Bild von Bruckner als katholischem Tonheiligen etliche Retuschen erfahren. Vor allem durch Roger Norrington, der den „Menschen“, konkret: den säkularen Sinfoniker propagiert. Auch und gerade in der Neunten, Bruckners bedeutungsschwangerem, weil unvollendet gebliebenem Abgesang, pocht der Engländer darauf: Es handelt sich um ein weltliches Werk, das mit Blick auf die Aufführung im (säkularen) Wiener Musikverein konzipiert wurde, und zwar viersätzig – am nur rudimentär überlieferten Finale arbeitete Bruckner die letzten beiden Lebensjahre –, so dass dem vorausgehenden Adagio eben nicht der ach-so-heilige Nimbus des letzten Glaubensbekenntnisses des ach-so-frommen Bruckner zukommt.
Zu Recht weist Detmar Huchting im Booklet darauf hin, dass jene berühmte Widmung gar keine ist, sondern auf eine posthum zurechtgebogene Anekdote zurückgeht, wonach der gesundheitlich angeschlagene Komponist seinem Arzt ganz unfromm gesagt haben soll: Wenn er jetzt – während seiner Arbeit am vierten Satz – stürbe, dann habe sich das „der liebe Gott selber zuzuschreiben, wenn er ein unvollendetes Werk bekommt“.
Natürlich trägt auch diese Stuttgarter Neunte in der letzte-Hand-Fassung von 1894 das bekannte – für manche: berüchtigte – Norrington-Zertifikat: zeitgenössische (Wiener) Orchesterstärke und -aufstellung, vibratolose Tongebung und Bogenführung, partiturgetreue Phrasierung, Artikulation und Tempowahl. Die teutonischen Gralshüter werden vor allem in jenem (gerade mal 18 Minuten dauernden) Adagio auf ihre „Kosten“ kommen: Hier dürfen sie sich über Norringtons „irdische“, leichtfüßig-tänzelnde pastorale Passagen ärgern, über bislang ungehörte Paukenwirbel, schnell gestoßene Trompetenfanfaren, messerscharfe Dissonanzen und ein metrisch klar strukturiertes E-Dur-Ende mit zart verklingendem Hörnerklang – wo sonst tonnenschwere Exzesse tönen bzw. in den letzten, allzu sehr gedehnten Takten Hornisten den Kollaps fürchten. Im Scherzo wiederum federt Norrington die üblicherweise brutal gestampften Tutti-Schläge dynamisch ab, so dass ein spukhafter Hexensabbat (statt eines Schlachtenmassakers) zu erleben ist. Fern von subjektiv „gefühlten“, unentwegten Temposchwankungen à la Thielemann beharrt Norrington schließlich im „misterioso“-Eröffnungssatz auf einem strikten Grundpuls pro Motiv-Abschnitt. Da er diese wiederum deutlich voneinander absetzt (auch in radikalen Dynamik-Gegensätzen), erklingt zugleich ein straffer und pulsierender, aufregend dynamisierter Bruckner. Und ein unheiliger dazu. Das irritiert zunächst, überzeugt dann aber umso mehr.

Christoph Braun, 21.04.2012


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