Gimell/Codaex GIMSE 402
(75 Min., 3/1981, 1/1984)
Sich aus dem Werkbestand anderer Komponisten zu bedienen, um auf der Basis eines präexistenten Stücks durch kunstvolle Umarbeitung etwas Neues zu schaffen, war in der Renaissance (wie auch noch in der Barockzeit) kein Verbrechen, ja bedeutete - bei den großen Meistern - nicht einmal das Eingeständnis mangelnder eigener Kreativität; vielmehr konnte es z. B. eine Geste der Ehrerbietung vor einem großen Vorgänger und Vorbild sein, etwa eine Motette zur Grundlage eines fünfsätzigen Messordinariums zu machen. Der Gedanke des Sich-Inspirieren-Lassens spielt hierbei eine wichtige Rolle, ebenso wie der Wille zur ständigen Verfeinerung, Verdichtung und Vervollkommnung bereits bestehenden Materials. Palestrinas "Missa Benedicta es" ist eines von schier zahllosen Beispielen für eine solche "Parodie"; die Vorlage-Motette Josquin Desprez’, sechsstimmig wie auch Palestrinas Messe, verwendet ihrerseits bereits melodisches Material der gregorianischen Sequenz "Benedicta es", die ihre Textgrundlage ist - das gregorianische Repertoire war, vor allem im 15. Jahrhundert und davor, häufig Grundlage mehrstimmiger Kompositionen, denn Gregorianik war die eigentliche, die ursprüngliche Musik der römisch-katholischen Liturgie. Josquin also macht melodische Bausteine einer Sequenz zur motivischen Grundlage einer Motette, Palestrina adaptiert diese Motette und arbeitet sie zu einer Messe aus - und mehr noch: Peter Phillips, der Dirigent der Tallis Scholars, meint zeigen zu können, dass Palestrinas berühmte "Missa Papae Marcelli", die während des Tridentinischen Konzils zum kritischen Zeitpunkt des drohenden Verbotes mehrstimmiger Musik in der Liturgie einen Beitrag zur Verhinderung dieser Sanktion leistete, deutlich auf der kurz zuvor komponierten "Missa Benedicta est" basiert, ja in einigen kurzen Passagen sogar mit dieser übereinstimmt. Ein überaus reizvoller Gedanke: So hätte denn Josquin Desprez, einer der großen Väter der vokalpolyphonen Kirchenmusik, mittelbar auch ein Beitrag zur Bewahrung der mehrstimmigen Kirchenmusik geleistet.
Die vorliegende Einspielung der Tallis Scholars entstand bereits im Jahre 1981 (bzw. im Fall der ebenfalls enthaltenen "Missa Nasce la gioja" im Jahre 1984), also in den besten Jahren dieses brillanten Ensembles. Bezüglich der Interpretation gibt es schlichtweg nichts auszusetzen: Phillips sammelt seit jeher die besten, im Ensemblegesang erfahrensten Kräfte um sich und formt ihr jeweils individuelles Können zu einem Ensembleklang von selten erreichter Pracht, Kraft und Klarheit - eine reine Freude.
Michael Wersin, 07.08.2006
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