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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Wie beurteilt man eine Einspielung der H-Moll-Messe von 1959, die unseren heutigen Hörgewohnheiten in vielen Punkten de facto nicht mehr entspricht? Eine Grundsatzdiskussion lässt sich an dieser Stelle kaum führen, und die Dispute erfahrener Fachleute haben in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten gezeigt, dass endgültige Wahrheiten zum Thema Aufführungspraxis nicht einmal unter den Anhängern der historisierenden Praxis gefunden werden können.
Wir haben Bachs Notentext, der, lapidar gesagt, vor allem in puncto Tonhöhen und Verhältnis der Tonlängen zueinander wenigstens einigermaßen genaue Aussagen macht – aber selbst da wird es bei genauerer Betrachtung schon schwierig: Welche Stimmung wurde verwendet? Wie ist das Verhältnis von Triolen und Punktierungen im „Sanctus“? Wir haben selbstverständlich Bachs musikalisch-theologische Aussagen auf Basis des vertonten Messtextes, die wir heute ein großes Stück weit verstehen und nachvollziehen können – aber mit welcher Ästhetik setzen wir sie interpretatorisch um? Dass die „Alten“ (so auch Scherchen) eine mehr pathosgeladene Vorstellung hatten als heutige Interpreten mit ihrem vibratofreien Ansatz und ihren raschen Tempi, ist sicher. Aber ob das eine oder das andere „richtiger“ ist, können wir vom Inhalt her auch nicht entscheiden.
Halten wir uns also an die Fakten: Scherchens Tempi sind teilweise unvorstellbar langsam (z. B. beim „Kyrie I“, „Kyrie II“ oder „Qui tollis“), teilweise auch überraschend flüssig („Et in Spiritum Sanctum“). Scherchens Aufführungsapparat, der freilich viel größer ist als in der Regel unsere heutigen, musiziert in vieler Hinsicht ungenau nach objektiven Maßstäben: Erstaunlich oft sind verschiedene Ebenen des Satzes nicht zusammen, erstaunlich oft wird quälend zu tief gesungen. Besonders schlimm ist in diesem Punkt der Wagner-Bariton Gustav Neidlinger, der die „Quoniam“-Arie zudem mit hässlichen Portamenti verunstaltet. Pierette Alarie und Nan Merriman erfreuen hingegen weitgehend mit ihren hell timbrierten, schönen und geschmeidigen Stimmen. Léopold Simoneau ist zweifellos der Star der Solistenbesetzung: Sein Gesang scheint ebenso zeitlos schön wie derjenige eines Fritz Wunderlich. Und so gibt es in dieser h-Moll-Messe angenehm anzuhörende wie eher unangenehme Abschnitte, und das Unangenehme ist (Intonation, Zusammenspiel) oft objektiv unangenehm. Aber mit anderen als unseren heutigen Ohren können wir diese Aufnahme nicht hören, und vor diesem Hintergrund werden die meisten sie als antiquiert empfinden. Aber: Sie ist ohne Zweifel ein Tondokument von hohem Wert.

Michael Wersin, 25.08.2012


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