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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Schon allein aus musikalischer Perspektive ist jede Neuaufnahme der Bachschen Matthäus-Passion zwangsläufig so aspektreich, dass ihre Bewertung immer nur Fragment sein kann. Wenn aber, wie im vorliegenden Fall, auch noch ein revolutionäres räumliches Konzept mit theologischer Konnotation hinzukommt, dann kann Rezension immer nur Assoziation sein.
Konrad Küsters Forschungsergebnisse über die wahrscheinlichen originalen Aufführungsbedingungen des Werks in der Leipziger Thomaskirche – dass nämlich die beiden getrennten Ensembles, die die Partitur verlangt, nicht nebeneinander auf der großen Empore, sondern vielmehr vorne und hinten (auf der großen sowie auf der schon abgebrochenen Schwalbennestempore) gestanden hätten – sind nicht neu: Schon im Jahre 1999 wurde sein maßgeblicher Beitrag dazu veröffentlicht. Dennoch regt die hier nun vorliegende erste aufnahmetechnische Umsetzung dieser Positionierung des Aufführungsapparates noch einmal nachdrücklich zur Auseinandersetzung mit der These an: Die in Picanders Libretto angelegte „Rollenverteilung“ der Texte auf „Zion“ und „die Gläubigen“ gewinnt eine neue Dimension, indem „die Gläubigen“ als ideell vom tatsächlichen Passionsgeschehen getrennte Betrachter nun auch in der Aufführungssituation weit abseits (in der Thomaskirche hätte es sich um ca. 28 Meter gehandelt) situiert sind. Ob aber der Hörer dieser CD-Einspielung deshalb einige der interessantesten Stücke der Passion („Gerne will ich mich bequemen“, „Gebt mir meinen Jesum wieder“, „Geduld!“) wirklich aus der Ferne hören möchte, obwohl der historisch reale Höreindruck in der Thomaskirche ja allein von der Sitzplatznähe zur einen oder anderen Empore abgehangen hätte, sei dahingestellt.
Konzentrieren wir uns also lieber auf die rein musikalischen Einstellungen der Aufnahme. Wie es von René Jacobs nicht anders zu erwarten war, gibt es auch auf dieser Ebene eine Menge elaborierter Details und Spezialitäten. Positiv zu vermerken ist in dieser Hinsicht vor allem die Gestaltung der Continuo-Sphäre, wie sie vor allem im Evangelienbericht hörbar wird: Celli, Laute, Cembalo, Orgel (leider keine große, sondern eine Truhe) kommunizieren so abwechslungsreich und je für sich genommen auch so einfallsreich miteinander, dass der daraus resultierende Grad ihrer rhetorischen Beteiligung am Bibelwort Anlass zu ungetrübter Freude gibt. Evangelist Werner Güra weiß mit diesem Farbenspektrum auch kongenial umzugehen. Gleichermaßen überzeugend ist unter den Sängern Johannes Weisser, der die Christuspartie ebenso unprätentiös wie unmittelbar packend zu gestalten weiß. Bei den Ariensängern hingegen hält sich die Begeisterung in Grenzen: Hier hat u.a. das Vibrato in einem Maße Platz gegriffen, wie es in historisierenden Zusammenhängen eher nicht wünschenswert ist. In der Alt-Lage führen zudem Registerprobleme zu unerquicklichen Höreffekten. Tadellos agieren hingegen wiederum die Chöre. Das insgesamt gemischte Bild, das sich aus diesen und anderen Beobachtungen ergibt, rechtfertigt alles in allem eine nachdrückliche Empfehlung zur Auseinandersetzung mit dieser Version und über weite Strecken auch zum Genuss derselben – vor allem dann, wenn es sich nicht um die erste Begegnung mit der Matthäus-Passion handelt.

Michael Wersin, 23.11.2013


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