home

N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Gab es eine typische „DDR-Musik“? Die Antwort von Steffen Schleiermacher, der als bedeutendster Pianist für Neue Musik aus den neuen Bundesländern gelten darf, ist ein klares „Nein“. Doch liest man Schleiermachers aufschlussreiche und lebendige Anmerkungen im Beiheft, dann fällt schon auf, dass es dafür ein typisches Hören und Rezipieren gab: eines, das Material und Titel immer auch auf feinste politische Nebenbedeutungen abscannte. Denn wie könnte man sonst auf die Idee kommen, in Reiner Bredemeyers Klavierstück 3, bei dem der Pianist mit geschlossenem Mund mitsummt, eine subversive Anspielung zu entdecken, in Friedrich Schenkers kurzer Schönberg-Hommage von 1972 eine Auflehnung gegen Formalismusvorwürfe zu erkennen oder das letzte von Friedrich Goldmanns „Vier Klavierstücken“ als eine „Idylle mit Stacheldraht“ zu bezeichnen?
Typisch war aber auch die größere Bedeutung privater Verbindungen unter nicht hundertprozentig systemkonformen Musikern. Und gerade auch dieses Netzwerkartige verleiht Schleiermachers Auswahl von Klavierwerken seiner so unterschiedlichen Lehrer, Freunde und Kollegen weit mehr als bloß persönlichen Aussagewert. Wenn ein privateres Faible Schleiermachers auf der CD zum Tragen kommt, dann ist es sein Interesse am Nachklang. Dieses Interesse zeigt sich stilistisch in den zahlreichen Hommagen des Programms sowie in den musikalischen Reflexionen, die von Schönberg über Messiaen und Boulez bis hin zu Wolfgang Heisigs fast naiver „Happy Birthday“-Bearbeitung reichen. Als Pianist wiederum nutzt Schleiermacher in auffällig vielen Kompositionen die Gelegenheit, dem wunderbar großbürgerlich-erdigen Steinway von 1901 mit oft nur knappem, aber ungeheuer präzise kalkuliertem Anschlag die farben- und nuancenreichsten Hall- und Obertoneffekte zu entlocken. Werden aber dabei die Zwischentöne nicht bisweilen zur Hauptsache? Vielleicht – aber genau dieses Prinzip hielt die Kunst in der DDR am Leben.

Carsten Niemann, 04.10.2014


Diese CD können Sie kaufen bei:

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen



Kommentare

Kommentar posten

Für diese Rezension gibt es noch keine Kommentare.


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Der Komponist Giacomo Orefice (1865–1922) wuchs in einer jüdischen Familie im norditalienischen Vicenza auf und ist vor allem für sein Opernschaffen bekannt. Auch als Pädagoge macht er sich einen Namen, sein berühmtester Schüler war der Filmkomponist Nino Rota. Orefices bekanntestes Musiktheaterwerk ist „Chopin“, für das er die Klavierwerke des polnischen Komponisten orchestrierte. Seine eigene Klaviermusik umfasst überwiegend romantische Charakterstücke, die von Gedichten, […] mehr


Abo

Top