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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Christian Gerhaher auf den Spuren von Fritz Wunderlich – eine recht ungewohnte Verbindungslinie, stehen doch Baritone seiner Generation oft unter dem Banne Dietrich Fischer-Dieskaus, während die Tenöre sich an ihrem großen Fach-Vorgänger abarbeiten. Und so erlebt der Kenner jener Live-Aufnahme von Haydns „Sechs schottischen und walisischen Liedern“, die der ORF mit Wunderlich in Wien fünfzig Jahre vor der nun vorliegenden produzierte, ein rechtes Vexierspiel mit Déjà-entendu-Qualität: Gerhaher gleicht bei diesen Liedern nämlich seinen Gesangsduktus und sein Timbre schwärmerisch demjenigen von Wunderlich an, wie er selbst freimütig im Beiheft zugibt. Allerdings – das muss man angesichts von so viel Offenheit seinerseits anmerken dürfen: Er kommt an die herzzerreißende schlichte Schönheit des Originals nicht heran. Stattdessen geht der sonst (etwa bei Wolf oder Schubert) so überwältigend Sprach-Genaue hier irritierend sorglos mit Wort- und Silbengrenzen und dem Gefälle zwischen betonten und unbetonten Silben um – viel sorgloser als Fritz Wunderlich in vor-historisierender Zeit.
Tatsächlich hat man den Eindruck, Gerhaher habe sich an jenem Münchner Abend im März 2013 erst nach seiner Wunderlich-Hommage wirklich freigesungen: Den großartigen „Folksong Arrangements“ Benjamin Brittens drückt er souverän seinen eigenen interpretatorischen Stempel auf, und auch mit Beethovens „Schottischen Liedern“ op. 108 (die übrigens Fischer-Dieskau schon 1952 für den RIAS eingespielt hat) geht er so kreativ und frei um, wie man es sich nur wünschen kann – der Hörer freue sich auf überraschende Effekte.
Insgesamt wird deutlich, dass der schmale Grat zwischen Volkston und Kunstgesang, den diese Lieder durchweg bilden, gar nicht leicht zu bewandern ist: Soll man den differenzierten Umgang mit Sprache, den das „echte“ Liedrepertoire fordert, hier hintanstellen – und wenn ja, wie radikal? Nicht wenige der hier versammelten Melodien sind hinsichtlich ihres Tonumfangs und ihrer Intervallstruktur deutlich umtriebiger als die genuin klassischen, und der gesangstechnische Anspruch ist beträchtlich. Keine leichte Aufgabe, auch für einen so standfesten Sänger wie Gerhaher.

Michael Wersin, 28.05.2016


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