Zwei Pianisten mit höchst unterschiedlichem Hintergrund machten im Jahr 1960 in den USA Furore mit ihren Darbietungen von Johannes Brahms’ zweitem Klavierkonzert, beide begleitet vom Chicago Symphony Orchestra. Der eine von ihnen, Van Cliburn, war Texaner, pianistisch ausgebildet zunächst von seiner Mutter, die als Enkel-Schülerin von Franz Liszt galt, dann von Rosina Lhévinne an der Juilliard School. Er hatte 1958, mitten in der Ära des Kalten Kriegs, den Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb gewonnen (Chruschtschow selbst musste diese Sensation vor ihrer Verkündigung absegnen) und war danach in seiner amerikanischen Heimat wie ein Kriegsheld mit frenetischem Jubel empfangen worden. Auf Dauer hat er diesen plötzlichen Ruhm nicht gut verkraftet, seine Karriere geriet bald ins Stocken. Der andere, Sviatoslav Richter, stammte aus dem russischen Reich; aufgewachsen im ukrainischen Odessa als Sohn eines deutschstämmigen Kirchenmusikers, war seine Kindheit von Repressionen geprägt. Später wurde er in Moskau Student des berühmten Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus. Sein Amerika- Debüt im Oktober 1960 war eine ähnliche Sensation wie Van Cliburns Triumphzug durch die Heimat nach seinem Wettbewerbsgewinn.
Beide Pianisten wurden u. a. gerühmt für ihre schier unermüdliche Kraft – aber davon abgesehen sind ihre Versionen des Brahms-Konzerts denkbar verschieden: Richter, der seine Interpretationen wenige Tage nach dem Live-Debüt unter Studiobedingungen wiederholen durfte, ist ein sensibler Gigant, der gerade durch sein wahrhaft bewegendes lyrisches Vermögen unter der energischen Oberfläche begeistert. Van Cliburn dagegen lieferte live in Chicago am 8. April 1960 eine kantige, bisweilen fast ein wenig groteske Brahms-Show mit einer Menge falscher Töne, befeuert durch den nicht minder Effekt freudigen Fritz Reiner am Dirigentenpult. Einerseits Verinnerlichung, andererseits Veräußerlichung eines gewaltigen Potentials an musikalischer Gestaltungskraft: Es lohnt sich, diese beiden Brahms-Dokumente nebeneinanderzuhalten, nicht zuletzt auch im Bewusstsein ihres zeitgeschichtlichen Umfeldes.
Mit Johannes Brahms begannen auch Isaac Stern und Myra Hess im August 1960 ein Rezital in der Usher Hall von Edinburgh. Stern, wie Richter in der Ukraine geboren, war anders als jener schon im ersten Lebensjahr ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gelangt und hat dort eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Mit der Engländerin Myra Hess pflegte Stern ab 1956 eine rund vier Jahre währende musikalische Duo-Partnerschaft, die wohl keine ›Liebe auf den ersten Blick‹ war und nach dem hier dokumentierten Rezital offenbar auch keine Fortsetzung fand. Faszinierend ist, gerade auch vor diesem biografischen Hintergrund, die ungemein sichere, extrovertierte und selbstbewusste Interpretationshaltung, mit der sich die beiden Künstler der »Violinsonate Nr. 2 A-Dur op. 100« von Brahms widmen: Man mag Hintergründiges und Mehrdeutiges vermissen in diesem beinahe positivistischen musikalischen Szenario, aber dennoch springt der Funke des schier Schönen und Guten auf den Hörer über – besonders auch in der an Brahms anschließenden »Violinsonate D-Dur D 384« von Franz Schubert.
Charles Munch, 1891 geborener Elsässer deutscher Abstammung, kam über eine begonnene Karriere als Geiger erst spät zum Dirigieren. Seine Biographie war auch in anderer Hinscht durchaus bewegt: Im Ersten Weltkrieg hatte er noch auf der Seite der Deutschen kämpfen müssen und war bei Verdun verwundet worden, im Zweiten Weltkrieg engagierte er sich, mittlerweile in Paris lebend, in der Résistance. 1949 wurde er Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra. 1958 spielte er mit diesem Orchester Johannes Brahms’ »Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98« ein. Wie oft schon haben wir dieses Stück gehört – und wie frisch entsteigt die Musik unter Munchs kraftvoll formenden Hände noch einmal ganz urtümlich der Partitur: Munch macht Brahms’ kantige Rhythmen auf ganz individuelle Weise zum Erlebnis, ebenso wie er den Brahmsschen Klangfarbenkosmos überraschend satt auszuschöpfen versteht. Die Musik rauscht und wogt, sie ergreift den Hörer mit wuchtiger Fülle – eine wahre Freude.
Michael Wersin, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2011
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