Erato/Warner 9029528414
(70 Min., 12/2019)
Heute sind Dirigentinnen das große Klassik-Gleichstellungs-/Diversitätsding. Vor einigen Jahrzehnten aber war das mal Franz Schuberts „Winterreise“. Darf, kann, muss diese ehern zu den Grundfesten abendländischer Bürgerlichkeit gehörende Sammlung 24 „schauerlicher“ Lieder von einer Frau gesungen, gar interpretiert werden? Lotte Lehmann war die erste, die es tat und Anfang der Vierzigerjahre auch aufnahm. Viel später folgten Christa Ludwig und Brigitte Fassbaender, beide um geschlechtliche Neutralität bemüht. Dann war auch diese Männerbastion gestürmt. Jüngst hat sich die elegante, doch zupackende Mezzosopranistin Joyce DiDonato als Wintereisende bemüht. Das Ergebnis, ein Konzertmitschnitt aus der Carnegie Hall, mit dem Dirigenten Yannick Nézet-Séguin in der ehrenvollen Reihe solch sensibler, vom Pult herabgestiegener Klavierbegleiter, es lässt aufhorchen. Denn DiDonato ist nicht nur ein den Raum füllendes Bühnentier, sondern auch eine Künstlerin mit sehr eigenwilligem Zugang. Sie erfand: „Die Winterreise – The Opera“, als packende Gesangsszene und Gebet einer (vielleicht doch nicht mehr) Jungfrau. Jene singt quasi retrospektiv aus den nachgelassenen Aufzeichnungen des verlorenen Liebsten. „Das Mädchen sprach von Liebe“, so fand die Mezzosopranistin ihren spezifischen Zugang. Sie ist die Frau, die Witwe. Sie erinnert sich an den Geliebten, vollzieht, erlebt mittels seines Tagebuchs dessen Schneewanderung nach. Sie singt das großartig, gefühlvoll und abwechslungsreich, mit voller, dann fahler Stimme. Joyce DiDonato verwandelt gekonnt, nie sentimental, auch wenn sie sich viel mehr Expression getraut als jeder singende Kerl, die Männersicht in Frauenliebe und -leben. Diese „Winterreise“ ist ganz die ihre, sie ist um eine weitere weibliche Facette reicher geworden.
Matthias Siehler, 08.05.2021
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