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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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Béla Bartók, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Joseph Haydn, Zoltán Kodály, Wolfgang Amadeus Mozart u.a.

Ferenc Fricsay – Complete Recordings On Deutsche Grammophon

RIAS-Symphonie-Orchester, RSO Berlin, Berliner Philharmoniker, Bayerisches Staatsorchester u.a., Ferenc Fricsay

DG/Universal 486 4012
(9/1949 - 11/1961) 86 CDs, 1 DVD

Für viele Musikfreunde ist die Erinnerung an den Dirigenten Ferenc Fricsay mit seiner im Jahr 1960 in einem blassen Schwarzweiß-Video festgehaltenen Probenarbeit mit den Sinfonikern des SDR verbunden, als er mit emphatischen Worten und in seiner unnachahmlichen Bildersprache den „Inhalt“ von Smetanas „Moldau“ zu vermitteln suchte und dabei selbst die abgebrühten Orchestermusiker beeindruckte. Man kann diese besondere Gabe, musikalische Strukturen in Geschichten zu verwandeln, zum Leben zu erwecken, plastisch zu vergegenwärtigen, auch in seiner Musizierhaltung nachspüren, so etwa in seiner allerletzten Aufnahme von Kodálys „Háry János-Suite“ im November 1961, in der der bereits todkranke Fricsay mit existenziellem Pathos noch einmal Kodálys volksnahe Ästhetik und seine Humanität beschwört, bevor er künstlerisch verstummt: Diese und viele andere Aufnahmen Fricsays erschüttern und verzaubern uns noch bis heute mit ihrer erzählerischen Kraft und ihrer glühenden Intensität.
Ferenc Fricsays künstlerisches Wirken ist untrennbar verbunden mit dem Wiederaufbau des Berliner Musiklebens in den turbulenten Nachkriegsjahren, also zwischen sowjetischer Blockade und dem Mauerbau. Hier leitete der 1914 geborene Budapester nach 1949 als GMD die Städtische Oper und formte gleichzeitig das 1947 gegründete RIAS-Symphonie-Orchester zu einem der führenden Orchester Europas. Zugleich war er einer der wichtigsten Förderer der Schallplatte und produzierte für die Deutsche Grammophon zahlreiche herausragende Opern- und Orchesteraufnahmen, darunter die erste in Deutschland produzierte LP (1949) und die erste Stereoaufnahme (1957).
Wenige Wochen nach dem Mauerbau, im September 1961, dirigierte er die Premierenvorstellung an der neuerbauten Deutschen Oper in Berlin, bevor seine schwere Erkrankung ihn zum endgültigen Rückzug zwang. Fricsay starb im Februar 1963 im Alter von nur 48 Jahren in Basel, und ist heute, trotz seines umfangreichen klingenden Erbes, etwas in Vergessenheit geraten.
Schon 2014, zu Fricsays 100. Geburtstag, hatte das Gelblabel seinen kompletten Fricsay-Katalog in zwei CD-Editionen veröffentlicht, getrennt nach Orchester- und Vokalaufnahmen. Jetzt also sind beide Boxen zu einer einzigen Komplettedition auf 86 CDs plus eine Video-DVD zusammengefasst worden. Man hat jetzt auch die damalige Aufteilung des Musikprogramms beibehalten und die Einzel-CDs in verkleinerte Original-LP-Covers gepackt. Doch anstatt korrekte Eins-zu-Eins-Umschnitte anzubieten, hat man die größere Kapazität der Silberscheibe genutzt, um zusätzliche, auf dem Cover nicht verzeichnete Titel mit aufzunehmen, was teilweise zu absurden Widersprüchen führt, wenn etwa vorne drei Komponisten angegeben sind, sich auf der CD aber nur Werke von einem befinden (wie in CD 35). Weitere Verwirrung stiftet die alphabetische, nach Komponisten anstatt nach Aufnahmedaten geordnete Abfolge des Programms, die Fricsays künstlerische Entwicklung unkenntlich macht: Denn gerade bei ihm sind die beiden Phasen seiner Aktivitäten beim RIAS-Symphonie-Orchester (1949-1954) und beim später umbenannten RSO Berlin (1957-1961) durch eine dramatische Veränderung seines Musizierstils gekennzeichnet: Der ungestüme, jugendlich-drängende, brillante Rhythmiker der Mono-Ära verwandelte sich zunehmend in einen vor Intensität und Leidenschaft berstenden, tiefschürfenden Geschichtenerzähler, der, wie Yehudi Menuhin schwärmte, jedes Werk „zu einem Roman“ machte. Man kann dies sehr schön an seinem unvollendeten Beethoven-Zyklus, der ihn von 1953 bis zu seinem Tod beschäftigte, nachvollziehen.
Die Wiener Klassiker waren Fricsays erklärte Hausgötter, und seine Studioproduktionen der fünf großen Mozart-Opern genießen bis heute Referenzstatus. Von Mozart produzierte er weitere 37 Orchesterwerke. Verdis Requiem und Haydns „Jahreszeiten“ und auch den Psalmus Hungaricus von Kodály hat er gleich zweimal eingespielt: in mono und stereo. Daneben engagierte er sich stark für die Werke seiner vormaligen Lehrer Bartók und Kodály, schätzte aber auch Zeitgenossen wie Blacher, von Einem, Hartmann, Egk, Hindemith und Fortner. Neben einem breitgefächerten sinfonischen Repertoire enthält diese Gesamtschau auch eine Reihe legendärer Konzertproduktionen, die sein Gespür für herausragende Solisten eindrucksvoll belegen: Géza Andas „idiomatische“ Kompetenz ist da etwa zu bestaunen in den drei Klavierkonzerten Bartóks, oder der leidenschaftliche Einsatz der jungen Johanna Martzy im Violinkonzert von Dvořák, und ähnlich charismatisch auch die Mozart-Konzerte mit Clara Haskil oder das c-Moll-Konzert Beethovens mit der energischen Annie Fischer. Und dann findet man auch solche Kuriositäten wie Sarasates „Zigeunerweisen“ mit dem schmalzig, aber gekonnt aufspielenden Solisten Helmut Zacharias. Alles in allem erhält man hier einen lückenlosen, akustisch gut restaurierten Überblick über das klingende Vermächtnis eines legendären Dirigenten, dessen immenser Beitrag zur deutschen Musikkultur aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden droht: Diese Edition würdigt ihn endlich umfassend.

Attila Csampai, 29.07.2023


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