Ein wahrhaft außergewöhnliches Projekt: Der amerikanische Tenor Michael Spyres verfolgt singend den Weg hin zu Wagner und „seinem“ Tenor-Typ, wie er in Gestalt des Cola Rienzi oder des Lohengrin scheinbar plötzlich auf den Plan trat. Dass diese Plötzlichkeit aber nicht der Realität entspricht, hören wir in diesem Rezital. Gewiss, dass es bei Beethoven und Weber, die das deutsche Singspiel vor Wagner geformt haben, auch hinsichtlich der Gesangsfächer Brücken zu Wagner gibt, ist naheliegend. Aber auch im französischen und italienischen Repertoire, also bei Méhul, Auber, Rossini, Bellini lassen sich Tenorpartien ausmachen, die zu Wagner führen. Und hier geht es nicht um die High-End-Virtuosen, die mit hohen Cs um sich werfen, sondern um den Typ des Bari-Tenors, jenen gut in der tiefen und der Mittellage verankerten Sänger, der die Höhe, die eben nicht bis in die zweigestrichene Oktave zu gehen braucht, mit viel Körperresonanz und Power zu bilden in der Lage ist.
So viel zur Theorie. Spannend ist freilich vor allem die Praxis: Wie bewältigt Michael Spyres diese große Spannweite des Repertoires von Méhuls Joseph aus der gleichnamigen Oper – er klingt hier verführerisch jugendlich und trotz aller Energie ungeheuer charmant – über Webers Max („Der Freischütz“) – im Vergleich deutlich metallischer, mit kraftvoller Attacke – bis hin zum Lohengrin, dessen Mezza-Voce-Orgie am Anfang von „Mein lieber Schwan“ aus Spyres’ Mund durchaus ein Drahtseilakt (beachtliche Weite des Klangs ohne Verlust des silbernen Vordersitz-Fadens) ist. Welche Kraftreserven diese Partie fordert, hören wir nur Minuten später, wenn I-Vokale in hoher Lage ein wenig nasal geraten und man die Herausforderung dieses Aufnahme-Projekts hautnah erlebt. Gut, dass mit Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset ein so umsichtig begleitendes Ensemble mit am Start ist, das den Sänger perfekt durch all seine anspruchsvollen Kantilenen trägt.

Michael Wersin, 30.03.2024

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