home

N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Oper & Konzert · Da Capo

(c) Bernd Uhlig

Konzeptuelle Kilos

Berlin, Deutsche Oper: Wagners „Walküre“

Dieser Erste Abend des „Ring des Nibelungen“, inszeniert von Stefan Herheim, rückt an die Stelle des fast 35 Jahre lang gelaufenen, legendären Götz-Friedrich-„Rings“. Er hat damit eine ziemliche Erblast zu tragen. „Misswende folgt mir, wohin ich fliehe“, singt Siegmund im 1. Akt. Daher will Herheims „Ring“ ein ‚Flüchtlings- Ring‘ sein. Die ganze Bühne ist übersät mit Hunderten, Tausenden altmodischen Lederkoffern. Das Problem: Koffer mögen ein Bild für Emigration sein. Für Flucht sind sie es eher nicht, Flüchtlinge heute haben keine Koffer. Im Übrigen trägt Brünnhilde (herbstlich golden: Nina Stemme) ein Metallwams mit geflügeltem Helm wie in den Met-Walküren der 30er-Jahre. Die Auftritte erfolgen aus einem aufgeklappten Flügel. Soll sagen: Alle hier sind Kopfgeburten des in Wotan personifizierten Komponisten. Der tritt am Ende als Juden-Karikatur seiner selbst auf. Kurz: Hier wird sehr viel, aber nicht immer ganz genau gedacht. Sängerisch wäre die Aufführung heute kaum besser besetzbar. Dennoch klingt Lise Davidsen als Sieglinde fast, als sei sie schon eine Brünnhilde. Differenzierter: John Lundgren als kernig knarzender Wotan. Brandon Jovanovich ist ein Holzfäller-Siegmund von kanadischem Format. Fast übertroffen werden sie erstaunlicherweise durch Haus-Kräfte. Fantastisch ausnuanciert: Annika Schlicht als Fricka; sie sieht dabei aus wie Desirée Nick. Vorzüglich auch Andrew Harris (Hunding). In ihnen ist die Deutsche Oper so gut, dass sie die Superstars fast deklassiert. Als großes Problem der Aufführung, auch als deren Altlast, erweist sich der Dirigent Donald Runnicles. Einen so schlecht disponierten 1. Akt hat der Rezensent vorher noch nie gehört. Den Rest serviert Runnicles – weil er wohl Angst vor der eigenen Courage bekam – mit umso mehr Schmackes. Dies ist nicht konkurrenzfähig im mit Wagner übersättigten Berlin. Es ächzt der Abend unter seiner Überrüstung. Er bestätigt das Maß seiner Unausweichlichkeit: durch konzeptuelle Kilos. Er hat Übergewicht.

Robert Fraunholzer, 24.10.2020, RONDO Ausgabe 5 / 2020



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Gefragt

Hille Perl und Andreas Arend

Schöne Verschmelzung

Gambe und Laute treffen auf diesem Album mit englischer Barockmusik aufeinander – es reicht vom […]
zum Artikel

Pasticcio

Ernüchternd

In schöner Regelmäßigkeit läuten unter den Intendanten von Konzerthäusern und Klassikmanagern […]
zum Artikel

Pasticcio

Anwalt der Zukunft

Als Pierre Boulez im vergangenen März seinen 90. Geburtstag feierte, wurde er von alten und neuen […]
zum Artikel


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Das Klavierquartett c-Moll des 19-jährigen Strauss war ein Geniestreich, der sofort als solcher erkannt wurde. Komponiert 1883/84, zwischen der ersten Sinfonie und der „Burleske“ für Klavier und Orchester, gilt es als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Brahms und den Formen der klassisch-romantischen Instrumentalmusik.

Aus einer viel späteren Schaffensphase, nämlich den letzten Kriegsmonaten 1945, stammen die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“. Zu jener Zeit arbeitete […] mehr


Abo

Top