home

N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Oper & Konzert · Da Capo

(c) Carole Parodi

Da Capo

Genf (CH), Grand Théâtre – Prokofjew: „Krieg und Frieden“

Souverän geführtes Schlachtengemälde

Ein Stück so brutal und beziehungszart, so ambivalent wie das 20. Jahrhundert. Das ist Sergei Prokofjews sowjetpopulistisch durchwirktes und trotzdem bei den damaligen Machthabern durchgefallenes Schmerzenskind „Krieg und Frieden“. 14 Damen- und 45 teils episodische Herrenrollen sieht dieses viereinhalb Stunden dauernde Liebes- wie Schlachtenepos nach dem ausufernden Zeitpanorama-Roman von Leo Tolstoi vor. Am Genfer Grand Théâtre hat Rebecca Ringst einen rotweißgoldenen Rokoko-Salon als kostbare Schachtel auf die Bühne gestellt. Darin lässt Calixto Bieito mit großer Souveränität die von allen Vokalprotagonisten simultan gespielten Geschehnisse zwischen Leidenschaft und Kampf um Napoleons Russlandfeldzug 1812 ohne jeden Szenenwechsel im fernen Spiegel der vulgären Moskauer Oligarchengesellschaft von heute ablaufen. Der desillusionierte Andrej des geschmeidig sehnigen Björn Bürger ist der erste, der sich freikämpft. Dann folgt Natascha (die sehnsuchtsvoll-intensive Ruzan Mantashyan). Sie alle werden – begleitet von anschwellenden patriotischen Gesängen des jetzt das feudale Zimmer enternden Volkschors – im Krieg nicht dieselben bleiben. Bieito braucht die enervierende Ruhe des Anfangs, um die Ängste auszustellen, die nicht nur den Salon auseinandersprengen. Rechts sitzt vor einem gläsernen Schachspiel, ganz in Weiß, als Einpeitscher der Marschall Koutouzov (grandios machtvoll: Dmitry Ulyanov). Später, nach dem sich Andrej und die endlich emanzipierte Natascha doch noch zu seinem Sterben gefunden haben, wird der zu einer Art Sektenführer. Diese so unerhörte Oper klingt fast immer spannend, knallig, wenn es muss, fein und melancholisch, wenn es darf. Und stets macht sich da dieser typische Prokofjew-Ton breit: trocken, sachlich, sarkastisch, auch mal lärmig vulgär, alle Stile des 20. Jahrhunderts amalgamierend und doch ein eigenes Idiom treffend. Genau den trifft auch Alejo Pérez am Pult des seit 18 Monaten hier erstmals wieder in großer Besetzung aufspielenden Orchestre de la Suisse Romande mit fast schlachtenführerhafter Akkuratesse und Weitsicht.

Matthias Siehler, 23.10.2021, RONDO Ausgabe 5 / 2021



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Big Deal!

Das ging ja diesmal dermaßen ratzfatz, dass in den deutschen Feuilletons gar keine Zeit blieb, um […]
zum Artikel

Kronjuwelen

Magazin

Schätze für den Plattenschrank

Es ist immer noch fraglich, was die Szene der historischen Aufführungspraktiker wohl ohne ihn, […]
zum Artikel

Gefragt

Tianwa Yang

Forever Yang

Sie gilt Kennern als „beste Geigerin der Welt“ – und könnte die erste sein, die mit […]
zum Artikel


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Das Klavierquartett c-Moll des 19-jährigen Strauss war ein Geniestreich, der sofort als solcher erkannt wurde. Komponiert 1883/84, zwischen der ersten Sinfonie und der „Burleske“ für Klavier und Orchester, gilt es als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Brahms und den Formen der klassisch-romantischen Instrumentalmusik.

Aus einer viel späteren Schaffensphase, nämlich den letzten Kriegsmonaten 1945, stammen die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“. Zu jener Zeit arbeitete […] mehr


Abo

Top