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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Fabian Cantieri

Linus Roth

Bach mit Hüftschwung

Auf seinem neuen Album „SamBach“ nimmt der Geiger den berühmten Leipziger Thomaskantor mit auf Reisen – nach Brasilien.

Als Samba-Tänzer, sagt Linus Roth, habe er sich noch nicht hervorgetan, denn: „Ich hatte bisher nie wirklich Zeit in meinem Leben, tanzen zu lernen.“ Macht nichts, denn er hat ja seine Geige. Statt Beine, Füße und (vor allem) Hüften in hüpfende und kreisende Bewegung zu versetzen, lässt Roth seine Finger übers Griffbrett und den Bogen über die Saiten gleiten und erweckt so die lässige Beschwingtheit, die unbändige Lebensfreude des brasilianischen Nationaltanzes im Zweivierteltakt. Wer wissen möchte, wie sich das anhört, sei auf das neue Album des gefeierten Musikers verwiesen. Auf ihm hat er eine Reihe eigens arrangierter Samba- und Bossa-nova-Klassiker aus Brasilien eingespielt, darunter das Kult gewordene „Girl Of Ipanema“, den „One Note Samba“ und den vor allem in Sérgio Mendes’ Version von 1966 bekannten Hit „Mas que nada“. Den Blick Richtung Lateinamerika unterstreicht die erste Silbe des Albumtitels „Sam-“, doch statt wie erwartet auf „-ba“ zu enden, geht das angefangene Wort über in „Bach“, den vielleicht berühmtesten Namen der Musikgeschichte. „SamBach“: ein verbaler Brückenschlag, der das Konzept der Anfang September erscheinenden Produktion elegant zusammenfasst. Tatsächlich treffen die Sambarhythmen Brasiliens hier auf Musik des berühmten Leipziger Thomaskantors. Doch damit der Wortspiele nicht genug.

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Als musikalischer Partner von Linus Roth ist ein auf Barockmusik spezialisiertes Orchester an Bord, das sich Johann Sebastian Rio nennt. „Rio“ bedeutet im Portugiesischen zwar eigentlich „Fluss“, doch was ist ein Fluss am Ende schon anderes als ein angewachsener Bach? Zudem sitzt das Orchester in Rio de Janeiro, wo nicht nur der berühmteste Karneval der Welt zu Hause ist, sondern von Nachfahren afrikanischer Sklaven auch erstmals die Samba getanzt wurde.
„Kennengelernt habe ich Johann Sebastian Rio im Jahr 2017“, sagt Linus Roth, der damals eigentlich für einen ganz anderen Auftritt ins nordbrasilianische Belém gereist war, dann aber vom Veranstalter vor Ort gebeten wurde, beim Konzert eines „ganz neuen und jungen Orchesters“ als Solist auszuhelfen. Auf dem Programm standen Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Mit ihnen nahm die musikalische Liaison zwischen Linus Roth und Johann Sebastian Rio ihren Anfang. Barock sollte es auch weitergehen, denn nach dem großen Erfolg in Belém fragten die Musiker, die noch vor ihrem offiziellen Debüt-Konzert im ausverkauften Teatro Municipal in Rio de Janeiro eine nicht unbedeutende Social-Media-Bekanntheit erlangt hatten, ob Linus Roth nicht Lust habe, gemeinsam mit ihnen für ein YouTube-Video Bachs E-Dur-Violinkonzert aufzunehmen. Der Star aus Deutschland war Feuer und Flamme.
„2018 haben wir das Bach-Konzert aufgenommen und als Gag noch ein wenig brasilianische Musik drangehängt“, berichtet Linus Roth, „einen Choro für Geige, Tamburin, Gitarre und Kontrabass.“ Neugier hat den Geiger schon immer beflügelt – was nicht zuletzt sein Einsatz für den jüdisch-polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg (1919-1996) zeigt, der seine Wiederentdeckung vor allem Roths Weltersteinspielung aller Violinwerke auf acht CDs verdankt. Die Neugier auf die Musik Brasiliens führten Roth und das Orchester bald zu musikalischen Experimenten mit den bekanntesten Samba-Melodien, die Ivan Zandonade, Solobratschist bei Johann Sebastian Rio und im musikalischen Nebenberuf ein begnadeter Arrangeur, für Violine und Barockorchester einrichtete. „Das war der Beginn des Projekts SamBach.“

Auf Traditionslinie der Bachianas

Das Album gleicht einer Reise vom Gestern ins Heute, von der Alten Welt in die tropisch bunte Paradieslandschaft der ehemaligen portugiesischen Kolonie. „Den Anfang macht natürlich Bach mit seinem Violinkonzert“, sagt Linus Roth, „der Weg zu Titeln wie ‚Girl Of Ipanema‘ oder ‚Mas que nada‘ führt aber über den brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos.“ Der ist hier – ausschnittsweise und gekreuzt mit der später entstandenen „Melodia Sentimental“ – mit seiner „Bachiana brasileira“ Nr. 5 vertreten, weltbekannter Teil einer neunteiligen Suiten-Reihe, in der Villa-Lobos höchst erfolgreich das Bach’sche Idiom mit den Klängen seiner Heimat verband. Die so entstandene Symbiose hat ebenso wenig mit „Cross-over“ zu tun wie das Gesamtkonzept von „SamBach“. „Cross-over hat immer so etwas Beliebiges“, sagt Linus Roth, „unser Album aber hat ja einen deutlichen und sehr nachvollziehbaren Aufbau.“ In der Tat ist es erstaunlich, wie fließend manchmal die Übergänge von europäischem Zentralrepertoire in die Gefilde des Tanzes, der Unterhaltung oder allgemein der Exotik sind. Und trotz der klaren Abgrenzungen schleicht sich in die Samba-Arrangements, die auch Barockinstrumente wie das Cembalo miteinbeziehen, ein leichter Hauch von „Brandenburgischem Konzert“. So betrachtet könnte man das Album durchaus in einer Traditionsline geglückter Bach-Fortspinnungen von früher sehen, Jacques Loussiers jazzige „Play-Bach“-Reihe etwa, den fröhlich plappernden Gesang der „Swingle Singers“ oder auch Luciano Berios geniale Bearbeitungen von Beatles-Songs im Bach-Stil.
Zwar hatte sich die Idee für das Album bereits 2020 gerundet. Doch verhinderte die Corona-Pandemie zunächst den gemeinsamen Gang ins Studio. Die Musiker blieben dennoch intensiv in Kontakt, so dass im Frühjahr 2023 endlich die Aufnahmen stattfinden konnten. Als kleinen Bonus haben Linus Roth und Johann Sebastian Rio Ausschnitte des Albums als Video bei YouTube eingestellt. Man sieht den Musiker darauf mit Geige in der Hand vor Palmen- und Zuckerhut-Kulisse und in lässiger Sommergarderobe am weißen Strand von Ipanema herumspazieren. „Wenn schon Klischee, dann richtig“, sagt er schlitzohrig – und nicht nur beim Anblick der Videos nimmt man ihm ab, dass er sich trotz seiner deutschen, besser gesagt oberschwäbischen Herkunft gern dem gelassenen und nicht immer auf maximalen Absicherungstrieb ausgerichteten Lebensgefühl des Südens hingibt. Denn ebenso wie zu Brasilien hat Linus Roth auch ein enges Verhältnis zu Spanien, wo er häufig auftritt und auf Ibiza mit den „Ibiza Conciertos“ ein eigenes Festival organisiert.
Passend zum Sommerausklang erscheint das Album „SamBach“ Anfang September. Wer Linus Roth und Johann Sebastian Rio live hören möchte und Fernreisen scheut, muss sich aber auch nicht allzu lange gedulden. Die Musiker haben für 2024 eine Deutschland-Tournee geplant, die sie u.a. zu Roths Festival „Schwäbischer Frühling“ nach Ochsenhausen führen wird, und auch im Jahr darauf möchten sie wiederkommen. Nähere Informationen stehen noch aus – ebenso wie für das nächste gemeinsame Album-Projekt. Eines aber ist klar: Der musikalische Brückenschlag wird fortgesetzt.

Neu erschienen:

Johann Sebastian Bach, Heitor Villa-Lobos, Antonio Carlos Jobim, Marcos Valle, Zequinha de Abreu u.a.

SamBach – Violinkonzert E-Dur BWV 1042 u.a. Werke

Linus Roth, Orquestra Johann Sebastian Rio

Evil Penguin/Note 1

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Spielbeine

Geboren und aufgewachsen in Oberschwaben, hat der deutsche Geiger Linus Roth (Jahrgang 1977) nach seinem Studium, u.a. bei Ana Chumachenco und Zakhar Bron, schnell die internationale Karriereleiter erklommen. Immer wieder setzt er sich dabei für unbekanntes und wiederzuentdeckendes Repertoire ein, allen voran für die Werke des Komponisten Mieczysław Weinberg. Neben seiner Konzert- und Aufnahmetätigkeit unterrichtet Linus Roth als Professor an der Universität in Augsburg. 2018 gründete er auf Ibiza das Festival „Ibiza Conciertos“, 2020 übernahm er zusätzlich die Künstlerische Leitung der Musikfestspiele „Schwäbischer Frühling“ in Ochsenhausen.

Stephan Schwarz-Peters, 02.09.2023, RONDO Ausgabe 4 / 2023



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