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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Dieter Nagl

Christian Thielemann

„Wo andere in Rente gehen, fange ich erst an“

Der Dirigent über seinen Bruckner-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern, die Last des Betriebs und seine Mutter.

RONDO: Herr Thielemann, Ihr neuer Bruckner-Zyklus ist, man muss sagen: der flüssigste, innerlich gelöste, auch klanglich weichste von allen. Absicht?
Christian Thielemann: Die Gelöstheit, die Sie meinen, liegt an der Freundschaft, die sich zwischen den Wiener Philharmonikern und mir entwickelt hat. Wir haben viel zusammen gemacht, auch all die dicken „Brummer“. Weichheit ist ein Markenzeichen dieses Orchesters. Bruckner hat es gekannt. Es ist ja so: Diese Werke bergen in sich eine gewisse Mystik. Der Nebel aber, den das bedeuten könnte, der darf niemals vernebeln. Dieser Bruckner-Zyklus hat einfach sehr viel mit den Wiener Philharmonikern zu tun.

Steht Bruckner in der Gefahr, von anderen Orchestern zu eckig, zu monumental und zu „hart“ aufgeführt zu werden?
Ganz genau. Das ist so ähnlich wie beim „Parsifal“. Wenn Sie den zu langsam angehen, wird er breiig. Zu schnell geht auch nicht. Genauso hier. Kanten jedenfalls gehören da nicht rein. Bei Bruckner kommt sehr vieles darauf an, nicht zu früh alles zu geben. Ich kann ihn auch erst seit einigen Jahren richtig disponieren. Und inzwischen habe ich die Achte bestimmt 50 Mal dirigiert. Man muss es lernen. Die Partituren lassen einen auch allein.

Dieser Bruckner-Zyklus – und das unter Ihrer Leitung! – ist ausgerechnet der „unpreußischste“ von allen geworden. Oder?
Nein. Das Preußentum besteht darin zu wissen, wann man aufhört. Im Nicht-zu-viel-Geben und in der Dosierung. Schauen Sie sich mal das Schloss in Paretz an. Das ist preußischer Klassizismus. Oder denken Sie an das preußische Rokoko. Es geht um Selbstbeherrschung. Und um Zurückhaltung. Mich fasziniert das.

Wie ist es möglich, dass dies der erste Bruckner-Zyklus überhaupt in der Geschichte der Wiener Philharmoniker ist?
Das wissen die selbst nicht. Noch dazu: Weder die „Nullte“, die eigentlich eine annullierte Zweite ist, noch die Studiensinfonie hatten die Wiener Philharmoniker je vorher gespielt. Auch ich übrigens habe noch nie, wie ich es hier getan habe, zwei Bruckner-Sinfonien am selben Tag dirigiert. Die Nullten machen es möglich.

Große Einzelaufnahmen entstanden bei den Wiener Philharmoniker andererseits genug, zum Beispiel unter Karajan, Giulini, Schuricht, auch unter Nikolaus Harnoncourt. Würden Sie diesen auch nennen?
Unbedingt. Harnoncourt hat es ganz anders gemacht, aber sehr überzeugend. Gerade Harnoncourt würde ich nennen. In Österreich war er hörbar noch mit einer schönen Ländler-Tradition aufgewachsen. So ähnlich wie ich mit dem Neujahrskonzert aufgewachsen bin. Meine Eltern waren überhaupt Österreich-Fans. Wir hatten und haben viele Freunde in Salzburg. Ich selbst war auch oft in Wien.

Waren Sie es, der die Nullten wollte?
Ja. In der Covid-Zeit hatte ich mich mit den verschiedenen Fassungen der Werke beschäftigt. Es herrscht da ein ziemlicher Wirrwar. Von der Vierten gibt es sage und schreibe sieben verschiedene Versionen. Die sogenannten „Wiener Fassungen“ hatte noch nie – oder fast nie – jemand gemacht. Also haben wir sie bevorzugt. Ich habe diesmal gern andere Fassungen dirigiert als sonst. Bei den Nullten ist diese Situation natürlich übersichtlicher. Und was für schöne Werke! Alle Scherzi Bruckners, egal aus welcher Phase, sind absolut erste Klasse.

Sie sind dafür bekannt, dass Sie noch in der Aufführung gern die Tempi ändern. Naiv gefragt: Warum machen Sie das?
Weil es mir Spaß macht. Und weil ich Fantasie habe und nicht jeden Abend gleich sein möchte. Knappertsbusch und Furtwängler haben es auch so gehandhabt. Ich bitte Sie: Vier Mal dieselbe „Eroica“, das ist doch grauenvoll. – Das kommt bei mir natürlich durch die Oper. Sänger sind jeden Tag anders drauf. Ich gehe auf sie ein. Ich bin eigentlich von Haus aus ein Begleiter.

Machen alle Orchester Ihre Spontaneitäten gerne mit?
Nicht alle. Die reinen Sinfonieorchester sind es nicht gewohnt. Die Opernorchester aber schon. Hätte Daniel Barenboim die Berliner Staatskapelle nicht zu einer solchen Wahnsinns-Flexibilität erzogen, hätte ich den „Ring des Nibelungen“ in Berlin nie so dirigieren können. Und ich hätte das Haus als GMD auch nicht übernommen.

Nächstes Jahr werden Sie Generalmusikdirektor an der Berliner Staatsoper. Warum haben Sie das Angebot angenommen? Sie könnten als Gastdirigent doch ein viel leichteres Leben führen!
Es ist halt eine Liebesaffäre mit der Staatskapelle. Ich dachte eigentlich, nach Dresden würde ich keine feste Stelle mehr wollen. Ich bin aber der einzige Berliner, der sowohl an der Deutschen Oper wie an der Staatsoper Chefdirigent war bzw. ist. Und der dritte Berliner an der Staatsoper überhaupt! Nach Furtwängler nämlich und, wenn man ihn dazurechnen darf, denn er stammte eigentlich aus Tasdorf: Giacomo Meyerbeer.

In fast allen Aufführungen, die ich von Ihnen besucht habe, ist regelmäßig auch Ihre Mutter anzutreffen. Wie würden Sie ihre Funktion für Sie beschreiben?
Ich bin ein Familienmensch. Ich verdanke meinen Eltern viel, denn sie haben mir alles ermöglicht, was ich bin. Ich würde gerne etwas davon zurückgeben. Mein Vater lebt nicht mehr. Meine Mutter ist aber nicht die Einzige in meiner Familie, die mitkommt, wenn sie Lust hat. Ich kriege von dort auch die besten, weil ehrlichsten Kritiken. „Das war zu exaltiert“, sagen die etwa. Oder: „Wie du dich da bewegt hast …“ Und ähnliches. Sie sagen es ungeschminkt, aber nicht hässlich.

Wie sind Sie aufgewachsen und wie sind Sie erzogen worden?
Ich bin protestantisch aufgewachsen. Das bedeutet: kein unnötiges Gedöns. Ich habe keine Agentur, ich brauche auch keine Entourage. Ich gehe gern mal raus aus dem Betrieb. Das Funktionierenmüssen, das ist schwierig für mich. Das Betriebsmäßige eben. „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist“, so heißt es in Stefan Zweigs Libretto zu „Die schweigsame Frau“. Zweig hat Recht.

Machen Sie sich die Enge dieses Betriebs nicht noch enger, indem Sie sich am liebsten innerhalb der Trias Wagner-Bruckner-Strauss bewegen?
Da haben Sie sogar Recht. Gegenwärtig bin ich dabei, mich ein bisschen daraus zu befreien. Ich werde mehrgleisiger fahren. Das bedeutet: Einmal im Jahr Bruckner. Wagner muss auch sein, schon wegen der Staatskapelle. 1925 kommt ein „Wozzeck“-Jahr, im Jahr danach würde Hans Werner Henze 100 Jahre alt. Zum Schönberg-Jahr könnte ich gleichfalls etwas beitragen.

Was wollen Sie lieber nicht?
Beethoven habe ich erstmal genug dirigiert. Ich würde gern mehr Italienisches machen. Auf jeden Fall „Cavalleria rusticana“/„Pagliacci“. Aber auch mehr Puccini. Ich habe noch niemals „Simon Boccanegra“ dirigiert und auch noch keinen „Falstaff“. Früher Wagner, in konzertanter Form, interessiert mich ebenfalls. Ich möchte den Stiefel teilweise beibehalten, und teilweise Neues machen. Ich bin stolz darauf sagen zu können: Wo andere in Rente gehen, da fange ich erst an.

Neu erschienen:

Anton Bruckner

11 Sinfonien

Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann

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Ahnentafel

Günter Wand haben wir verpasst.“, sagen die Wiener Philharmoniker. So ist Christian Thielemann der Dirigent des, kaum zu glauben: ersten Wiener Bruckner-Zyklus überhaupt. Da auch Eugen Jochum und Herbert Blomstedt nie Bruckner in Wien aufnahmen, entstanden die wichtigsten Bruckner-Zyklen unter Umgehung jenes Orchesters, das den engsten Draht zum Komponisten besaß. Gloriose Einzelaufnahmen gibt es trotzdem. Von Carl Schuricht über Carlo Maria Giulini bis zu Karajan. Um alle Neune aufzunehmen, ging dieser allerdings nach Berlin. Bruckner mag so ­insgesamt leicht ‚preußifiziert‘ worden sein. Um jetzt – ausgerechnet vom preußischen Thielemann – ‚zurückgewienert‘ zu werden.

Kai Luehrs-Kaiser, 25.11.2023, RONDO Ausgabe 6 / 2023



Kommentare

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Elisabeth
Was für eine unverschämte und dumme Frage, ob Nikolaus Harnoncourt zu den großen Bruckner-Dirigenten zu zählen ist. Harnoncourts Bruckner-Konzerte und -Aufnahmen waren und sind die größten überhaupt!

Uli H.
Dass Thielemann nicht mehr weiß, dass er im Juni 2014 in Dresden eine Opernpremiere von Simone Boccanegra dirigiert hat (in illustrer Besetzung mit Lucic, Agresta, Youn und Vargas), ist wie es ist. Ist halt Thielemann. Groß am Herzen wird ihm die Oper dann doch nicht gelegen haben, wenn er das schon wieder vergessen hat. Aber dass Kai Luehrs-Kaiser das auch nicht mehr wusste oder vergessen hat, das enttäuscht mich schon sehr. Denn bestimmt saß er doch damals auch in der Premiere. Und mir hat Thielemanns Simon Boccanegra damals - im Gegensatz zu seinen anderen "Ausflügen" mit Otello oder Tosca - sehr gut gefallen.

Gabriele
Hallo und ja, habe da auch die traurige, selbst verursachte Erfahrung, wie verletzend unverschämt und dumm wirkende Fragen vor den Kopf stoßen können, unverzeihlich gerade wenn es den trifft, der einem am Herzen liegt , wie Elisabeth augenscheinlich als 'Gesetz ' für alle gern hätte. Aber hier im Interview kann ich die Frage- allgemein abwertend gestellt - gar nicht finden. Ich lese nur eine doch eigentlich für mich als Leserin interessante Nachfrage, wie der GMD der Berliner Staatsoper zu der anderen Aufführungspraxis steht. Das Interview ist so reich an Assoziationsmöglichkeiten zu den Personen und Fragestellungen, da bildet sich eben jeder seine sehr subjektive Interpretation, aber spannend aufbereitet, finde ich und mit absolutem Respekt vor dem Befragten ohne ' Widersprüche' auszulassen oder 'Vergessenes' zu verbessern...


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