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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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Auditorium des Royal Opera House (c) ROH/Sim Canetty-Clarke

Royal Opera House in Covent Garden

The Real Deal

„Carmen“, „Butterfly“, „Andrea Chénier“: Die neue Kino-Saison des Royal Opera House klotzt, wo andere kleckern.

Es wird ja doch drüber geredet. Im Vorfeld seiner „Rheingold“-Premiere am Royal Opera House in Covent Garden holte der Gastregisseur der Produktion, Barrie Kosky, zu einem Rundumschlag aus. „Bei Livestreams von Opern und HD-Übertragungen im Fernsehen handelt es sich um eines der größten Desaster überhaupt“, grollte er zu Beginn dieser Saison – über Opern-Streams. Er sagte sozusagen den Tod der Oper aus dem Geist des Kinos voraus, wenn derlei weitergehe. Und das mit Seitenhieb auf einen Arbeitgeber, der zu den größten Kino-Anbietern im Opernbereich zählt. Musiktheater sei für ein Live-Publikum da, so Kosky. „Und wenn man dafür Reisen unternehmen muss, dann sollte man dafür eben Reisen unternehmen.“ – Nun gut, in Großbritannien hatte man Größe genug, dies triftige Wadenbeißen gelassen hinzunehmen. Der Erfolg der eigenen Kino-Strecke ist ohnehin nicht zu stoppen.
Warum gehen Leute für Oper ins Kino? Aus Unzufriedenheit gegenüber den Opernproduktionen zu Hause zum Beispiel. Oder aus Star-Verliebtheit oder aus Lust an kurzen Wegen. Opern-Streamings boomen nach wie vor. Wie auch anders? Warum soll ich überteuerte Metropolen wie London, Wien oder New York in Kauf nehmen, wenn ich das Gleiche viel bequemer um die Ecke haben kann. Die Besetzungen sind dabei handverlesen, das technische Equipment auf dem neuesten Stand. Und eine bessere „Madame Butterfly“ als Asmik Grigorian (26.3., 31.3., jeweils 15 Uhr) findet sich derzeit eh kaum (höchstens Ermonela Jaho). Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier: gediegene Regietheater-Konfektion – nicht übermütig, aber klug und stets stimmig schaubar (eine Co-Produktion mit Barcelona). Der amerikanische Tenor Joshua Guerrero (Pinkerton) singt sonst in Santa Fe und Paris. Lauri Vasar als Sharpless mag nicht sonderlich aufregend sein. Antonio Pappano, einer der besten Dirigenten des italienischen Repertoires überhaupt, wird die Sache schon meistern. Es ist auf jeden Fall interessant.
Mit der „Carmen“ (1.5., 19:45 Uhr, 5.5., 15 Uhr) sieht es nicht schlechter aus. Mit Piotr Beczała steht der gewiss beste Don José auf der Bühne, den man sich heute vorstellen kann – versiert im Französischen ebenso wie sonst im italienischen und deutschen Fach. Da die amtierenden Carmens der letzten Jahre (Anita Rachvelishvili und Elīna Garanča) für die Titelrolle derzeit nicht zur Verfügung stehen, ist die vielgelobte, 27-jährige russische Mezzo-Sopranistin Aigul Akhmetshina („a real deal“, wie es auf ihrer Homepage heißt) der Hingucker und Hinhörer der Stunde. In solchen Fragen, man muss es dem Casting-Büro am Covent Garden lassen, ist der Besetzungsliste des Royal Opera House nichts, aber auch gar nichts nachzusagen. Die angeblich „sinnliche“ Inszenierung indes stammt von Damiano Michieletto, der sich in Wirklichkeit zu einer derzeit eher ‚abstrakten‘ Phase in seinem Schaffen bekennt. Es dirigiert Antonello Manacorda.
Dann gibt es da noch einen „Andrea Chénier“ (11.6., 20:15 Uhr, 16.6., 15 Uhr), zünftig und zugkräftig besetzt mit Jonas Kaufmann als romantischem Dichter, der am Ende aufs Schafott steigt. Kaufmann war mit der eigenen Leistung in dieser Oper in Wien (vor etlichen Monaten) selbst so sichtlich unzufrieden, dass er beinahe kopfschüttelnd während des Szenenapplauses von der Bühne abging. Aber das war Wien. In London, mit Bühnen-Mikroport, wird man davon nichts merken. Außerdem ist Kaufmann inzwischen von einer Viruserkrankung, die ihn lange Zeit plagte, endlich genesen. Sondra Radvanovsky (eine Sängerin, die nach Jahren als Star der Met inzwischen auch auf europäischen Bühnen Fuß gefasst hat) ist seine Maddalena. Die noch wichtigere Rolle des Carlo Gérard wird von Alt-Star Carlos Álvarez verkörpert. Als Gräfin Di Coigny kehrt die einst fulminante Rosalind Plowright zurück. Wieder dirigiert Pappano. Die Co-Produktion mit Peking und San Francisco stammt von dem zahm gewordenen David McVicar.
Die Tänzerinnen und Tänzer der beiden großen Ballett-Produktionen in dieser Saison stehen noch nicht fest. Die Choreografie der alten „Manon“ aber (7.2., 20:15 Uhr, 11.2., 15 Uhr), da kann man unbesorgt sein, stammt noch von dem 1992 verstorbenen Kenneth Macmillan; diejenige des „Schwanensee“ gar von Marius Petipa und Lev Ivanov (24.4., 20:15 Uhr, 28.4., 15 Uhr). Wir empfehlen: Eintauchen und sich von den lasziven Schwänchen becircen lassen. Das legendäre Royal Ballet hat einen Ruf zu verlieren. Der ist mindestens so gut wie derjenige der Oper. Vertrauen darf man. Das ist der Vorzug dieser großen, kommerziell durchgeplanten und weltweiten Groß-Events.
Bliebe nur noch die etwas heikle Frage zu erörtern, ob man stimmliche Leistungen im Stream eigentlich für bare Münze nehmen kann? Ein weites Feld. Nicht zuletzt hängt es von den hier verwendeten technischen Mitteln ab. Der Verfasser kann ehrlich sagen, und zwar ohne aus seinem zweifelnden Herzen eine Mördergrube zu machen: Ich habe die Wagner-Heroine Waltraud Meier niemals besser bei Stimme gehört als bei ihrem Bayreuth-Abschied vor wenigen Jahren im „Lohengrin“ (als Ortrud). Die Stimmen, zumindest in Bayreuther Streams, werden offenbar derart radikal zuerst zusammengedrückt, also komprimiert, um dann wieder ‚aufgeblasen‘ zu werden, dass aus stimmlichen Resten scheinbare Naturwunder werden. Ein dubioser Effekt. Man sage nicht, dass auch bei Schallplatten-Produktionen von jeher manipuliert wurde. Was Kompressoren und ähnliche, computergestützte Hilfsmittel heute vermögen, davon haben sich Tontechniker der Callas-Ära noch nichts träumen lassen. Die Callas, sie sänge sozusagen heute noch, wenn ihre Abschiedstournee mit technischen Mitteln des Jahres 2023 hätte aufgemöbelt werden können.
Letztlich bleiben Kino-Opernbesuch und der festliche Gang in ein Theater doch zweierlei. Man muss sie nicht unbedingt gegeneinander ausspielen. Das Popcorn, das man zu „Schwanensee“ mümmelt – oder mümmeln sieht –, kann der Lässigkeit dienen. Der Entzauberung aber auch. Ohne Live-Oper immerhin macht auch Live-Stream keinen Sinn. (Das hat uns Covid gelehrt, wo das Abfilmen vor leerem Haus keinen Spaß machte.) Wer am Covent-Garden-Video Gefallen findet, wird den Wunsch, das Haus wirklich einmal zu besuchen, möglichst bald zu erfüllen versuchen.

Informationen zu beteiligten Kinos und Tickets:

www.rohkinokarten.com

Ende einer Ära

Nach über 20 Jahren als musikalischer Direktor des Royal Opera House in Covent Garden steht die Ära von Antonio Pappano inzwischen vor ihrem Abschluss. Last orders, please! Er wechselt den Stadtteil und wird ab September Chef beim London Symphony Orchestra (als Nachfolger von Sir Simon Rattle). Pappanos Renommee bei der italienischen Oper speist sich durch Gesamt­aufnahmen vor allem mit Angela Gheorghiu („Il trovatore“, „Il trittico“, „La rondine“) und Jonas Kaufmann („Aida“ mit Anja Harteros, zuletzt „Turandot“ mit Sondra Radvanovsky). Angebote, Opernhäuser in München oder Berlin zu übernehmen, lehnte Pappano aufgrund des deutschen Theatersystems bislang ab. Er lebt in London.

Kai Luehrs-Kaiser, 10.02.2024, RONDO Ausgabe 1 / 2024



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