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Wer einen altgedienten Spezialisten für die historische Aufführungspraxis besucht, der wird sofort in seinen Erwartungen bestätigt. Auf dem Wohnzimmertisch von Andreas Staier stapelt sich fachspezifisches Hörmaterial. Ob nun Aufnahmen von Cembalo-Kollegin X oder vom Hammerklavier- Kollegen Y. Doch dass Staier eher ein entspannter Vertreter seiner Zunft ist, wird direkt beim zweiten Blick über die feinsäuberlich sortierte Medienlandschaft klar. Hier liegen Chaplin-DVDs neben den etwas anderen Weisheiten der englischen Gag-Truppe Monty Python. Und von einer alten Vinyl-Scheibe guckt einen die junge Nina Hagen an. »Die finde ich einfach ganz toll!«, kommt wie aus der Pistole geschossen.
Andreas Staier scheint ein großes Herz für geniale Sonderlinge zu haben. Die tummeln sich bei ihm aber eben nicht nur im Unterhaltungssegment. Selbst in seiner beachtlichen Diskographie, die von John Dowland bis Franz Schubert reicht, taucht seit nunmehr zwanzig Jahren immer wieder ein Komponist auf, den viele vom Namen her kennen. Aber berühmt, gar populär ist Carl Philipp Emanuel Bach weiterhin nicht. Dabei war für Staier der zweite Sohn vom Großfamilienplaner Johann Sebastian schlicht ein unglaublich brillanter Kopf. Als Theoretiker, dem das einflussreiche Traktat »Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen« zu verdanken ist. Und noch mehr verehrt Staier den Komponisten: »Er hat musikalisch eine unverwechselbare Handschrift. Es ist eine wahnsinnig intelligente und interessante Musik, die vielleicht von der Grundtemperatur manchmal etwas kühler wirkt. Mich reizt aber diese Rhetorik und der Wagemut, mit dem er seine Werke konstruiert. Und gerade die Werke aus seiner späteren Zeit sind eigentlich die verrücktesten.«
Sechs von diesen Coups hat Staier nun zusammen mit dem Freiburger Barockorchester eingespielt. Es sind die »Sei concerti« für Cembalo, die 1772 in Bachs Hamburger Zeit entstanden sind. Schon 1990 hatte Staier das vierte Concerto einmal eingespielt. Doch je mehr er sich jetzt auch mit den anderen fünf Konzerten beschäftige, desto größer wurde sein Appetit. »Bach erzählt genau, was er will, was er vorhat. Er legt die Karten offen auf den Tisch und sagt einem: Jetzt zeige ich dir mal, was ich für Einfälle und Überraschungen parat habe. Er ist keiner, der sein Publikum einlullen oder umschmeicheln möchte. Das tut seiner Popularität Abbruch. Andererseits hatte auch sein Vater nicht die Absicht, sein Publikum einzulullen. Und mir ist es unerfindlich, dass Werke wie »Die Kunst der Fuge« populär sind. Denn das ist eine Qual zu hören. Das verstößt doch gegen jede Form der angenehmen Abwechslung. Da aber spielt einfach der Name Johann Sebastian Bach eine Rolle. Und niemand würde es zugeben, dass er sich auf höchstem Niveau langweilt.«
Nach dieser unverblümten Abrechnung schweift zum Schluss des Gesprächs dann noch mal der Blick über Staiers gedeckten CD-Tisch. Und eher zufällig nimmt man ein nur mit Filzstift beschriftetes Exemplar wahr. Es ist die Korrekturfassung von den »Sei concerti«. Und natürlich musste sich Staier wie bei all seinen anderen Einspielungen auch diesmal erst etwas Mut antrinken, bevor er sich das Ergebnis anhörte. »Man muss sich vorsichtig nähern. Man weiß ja nie, ob alles so geglückt ist, wie man es sich vorgestellt hat. Und daher war nun die erste Milchglasscheibe zwischen mir und der Neuaufnahme ein doppelter Wodka.« Danach konnte er beruhigt noch mal anstoßen. Auch im Geiste mit Bach junior.
Guido Fischer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2011
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