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N° 1355
27.04. - 08.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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75 Jahre jung: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Chef Sir Simon Rattle in seinem (bald) neuen Konzertsaal © Astrid Ackermann

Pasticcio

Hip, big & obdachlos

Als für den 23. Februar 1913 in Wien die Uraufführung seiner „Gurrelieder“ anberaumt war, fürchtete Arnold Schönberg schon das Schlimmste. Schließlich hatte seine Musik bislang handfeste Skandale ausgelöst. Doch was für ein Wunder geschah nun: Bereits während der Aufführung brannte immer wieder tosender Applaus auf. Und zum Schluss wurde das komplette, von Franz Schreker geleitete Musikerteam genauso gefeiert wie der Komponist, der damit den größten Triumph in seiner gesamten Laufbahn erlebte.
Knapp 40 Jahre alt war Schönberg zu jenem Zeitpunkt und galt als heiß diskutierter Zukunftsmusiker. Aber mit den „Gurreliedern“ schien er jetzt noch einmal eine Epoche in Erinnerung rufen zu wollen, in der die Musik in großen Bögen ausschweifend romantisch und nach allen Regeln der verführerisch duftenden Klangkulinarik dahinglitt. Wenngleich Schönberg mit schillernden Klangfarben durchaus eine Nähe zur französischen Avantgarde in der Person Debussys offenbarte, so war der Grundton der „Gurrelieder“ unüberhörbar von der Musik Richard Wagners geprägt.
Für mehr als 400 Musiker ist das Stück konzipiert – für fünf Gesangssolisten, einen Sprecher, drei Männerchöre, einen achtstimmigen gemischten Chor sowie ein rund 150 Musiker umfassendes Orchester mit u.a. 80 Streichern, 25 Blechbläsern und einer Schlagzeuggruppe, bei der auch große eiserne Ketten zum Einsatz kommen. Dennoch besitzt dieses Werk dank Schönbergs kongenialer Instrumentation einen auch kammermusikalischen Zauber.
Angesichts des Aufwands ist dieses Opus Magnum live kaum zu hören. Was auch die Konzertchronik des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks widerspiegelt. Gerade einmal drei Aufführungen sind in der 75-jährigen Orchestergeschichte dokumentiert. Wobei es immerhin noch eine bis heute gültige Gesamtaufnahme gibt, geleitet vom damaligen BR-Orchester-Chef Rafael Kubelik. Nun stehen am Wochenende die 4. Münchner „Gurrlieder“ ins Haus. Unter der Leitung seines neuen Chefs Simon Rattle spielt das Symphonieorchester des BR zusammen mit u.a. dem hauseigenen Chor sowie mit einem topbesetzten Vokalteam und Thomas Quasthoff als Sprecher dieses Oratorium. Das Praktische ist dabei für Auswärtige, dass sie dieses Konzert auch von zu Hause miterleben können. Am 20. April wird es um 22 Uhr im BR Fernsehen übertragen.
Mit diesem Schönberg-Projekt erfüllt sich Simon Rattle in seiner ersten Saison an neuer Wirkungsstätte eines seiner Herzensprojekte. Womit er zugleich die Feierlichkeiten zu einer langen Geburtstagssause einläutet. Bis weit in die nächste Saison hinein zelebriert man musikalisch vielseitig den 75. Geburtstag des Orchesters. Dazu gehören Bachs „Matthäus-Passion“ sowie Sinfonien von Bruckner und Mahler. Mit dem konzertant gebotenen 2. Aufzug von Wagners „Tristan“ erinnert man von Ferne an die legendäre Wagner-Gala des Orchesters unter Leonard Bernstein. Unter dem Motto „Hip“ widmet man sich der historischen Aufführungspraxis. Und selbstverständlich kommt auch die Moderne nicht zu kurz. So steht nach Schönbergs 150. Geburtstag in diesem Jahr der 100ste von Pierre Boulez im nächsten Jahr an.
Bei der Vorstellung der neuen Saison konnte sich Rattle aber auch einen kleinen Rückblick auf sein erstes Jahr in München nicht verkneifen: „Was habe ich hier gefunden? Zunächst einmal: was für ein Orchester, was für ein Chor! Leidenschaftlich, großzügig, freundlich, engagiert, fast beängstigend virtuos, sehr offen für neue Ideen und mit einem Sinn für Humor, der sogar mit seltsamen britischen Verrücktheiten umgehen kann. Ich bin außerordentlich glücklich.“ Jetzt fehlt zum kompletten Glück nur noch ein eigener Konzertsaal. Schließlich, so Rattle, ist das BRSO weiterhin das „einzige obdachlose Top-Orchester der Welt“.



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