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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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@ Bremen 1964 & 1975

Charles Mingus

Sunnyside/GoodToGo
(234 Min., 1964, 1975) 4 CDs

Ein Bandleader, zwei Bands, zwei Konzerte im Abstand von zehn Jahren: Das verspricht interessante Hörerlebnisse, zumal das erste Konzert 1964 in einer Zeit stattfand, in der viel exzellente Musik als „Free Jazz“ verdammt wurde, weil sie nicht im Mainstream swingte oder als Dixieland Nostalgiegefühle bediente. Zeitzeugen zufolge reagierte das Gros der 220 Besucher des Studio F von Radio Bremen am 16. April tatsächlich reserviert, als Charles Mingusʼ Sextett eine in heutigen Ohren vertraut wirkende Mischung aus Freiem und Swingendem vorstellte. Mit Abstand muss man sagen: Es war ein fantastisches Konzert einer bestens aufeinander abgestimmten Band, das zu den besten Mitschnitten aus Mingusʼ Europatournee vom 10. bis 29. April zählt.
Differenzen gab es trotzdem. So kommentierte Mingus mit der Komposition „Hope So Eric“ den wenige Tage zuvor zu Tourneebeginn in Oslo gefassten Beschluss des Bassklarinettisten, Altsaxofonisten und Flötisten Eric Dolphy, er wolle nach Tourneeschluss in Europa bleibe. Mit dem Kontrabass leitet er das Thema ein, und der folgende Reigen aus Soli und Tutti, aus schmeichelnden und harschen Klängen legt nur eines nahe: Die Band will den Bassklarinettisten lieber halten als verabschieden. In „So Long Eric“ benannte er das Stück im Lauf der Tournee um – aber daraus wurde nichts, da Dolphy im selben Sommer starb.
Den Gouverneur von Arkansas, Orval Faubus, hingegen hätte Mingus am liebsten seines Amtes enthoben, denn der hatte 1957 Nationalgarde und Polizei mobilisiert, um afroamerikanischen Schülern den Zugang zu einer ehemals für Weiße reservierten, nunmehr rassenintegrierten High School zu verwehren. Das 33-minütige „Fables Of Faubus“ spiegelt die Mischung aus Vorfreude auf die Integration, die Einsamkeit der Schüler, die Wut, das Beharren, Zögern, die Hektik, Freude, Verwirrung, die Gefahr, die Hoffnung und Sehnsucht, die Attacken und Debatten, den Sieg sowie die Einkehr einer immer noch spannungsgeladenen Normalität. Kurz vor Ende fasst ein Bassklarinettensolo all dies nochmal wie in einer Rückblende zusammen: Programmmusik zur Befreiung der Afro-Amerikaner, die im Freudentanz endet.
Mit dem Pianosolo „A.T.F.W.U.S.A.“ ehrt Jaki Byard die großen amerikanischen Pianisten Art Tatum und Fats Waller, und in Duke Ellingtons Komposition „Sophisticated Lady“ und dem assoziationsreichen „Parkeriana“ durchbrechen sie die Erinnerung an die Jazztradition mit Free-Einsprengseln. Doch die Bürgerrechtsbewegung ist nicht vergessen. Mit den emotionalen, 25-minütigen „Meditations On Integration“ kehren Mingus, Dolphy, Byard, der Tenorsaxofonist Clifford Jordan, der Trompeter Johnny Coles und der Schlagzeuger Danny Richmond nochmal mit swingendem, energiegeladenem, teilweise freiem Jazz in das politische Spannungsfeld zurück.
Zehn Jahre später, am 9. Juli 1975, sahen die Welt und die Band anders aus. Nun standen neben Mingus und Richmond der Trompeter Jack Walrath, der Saxofonist George Adams und der Pianist Don Pullen auf der Bühne. Die Bürgerrechtsbewegung hatte erste Erfolge errungen, und so konnte das Quintett etwas mehr als zwei Stunden befreit und wesentlich vergnügter als 1964 aufspielen. In den neun Titeln war die Free-Swing-Mixtur gereift; selbst wenn beispielsweise George Adams in „For Harry Carney“, einer Hommage an Ellingtons Saxofonisten, mit einem atemberaubendes Solo über der pulsierenden Rhythmusgruppe abhob, wirkte dies homogen. Auch die „Fables Of Faubus“ fielen bei weitem nicht mehr so wütend aus wie zehn Jahre zuvor – eine völlig andere Atmosphäre und Spielhaltung. Die 114 Minuten des Konzerts von 1964 gehen stellenweise unter die Haut. Das war beim gefälligeren, an solistischen Highlights reichen Konzert von 1975 weniger der Fall.

Werner Stiefele, 16.01.2021


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