Drei Jahre nach ihrer Debüt-Veröffentlichung kommt die erste weibliche Supergroup in der Geschichte des Blue-Note-Labels mit einer veränderten Besetzung daher: Die Stars Melissa Aldana, Anat Cohen und Cécile McLorin Salvant wurden durch Nicole Grover und Alexa Tarantino an Saxofon und Flöte ersetzt.
Dass die weniger bekannten Instrumentalistinnen nicht minder super sind, beweisen sie auf „In Real Time“ mit einer Selbstverständlichkeit, die perfekt zur Philosophie der von der Pianistin Renee Rosnes gegründeten und angeführten Formation passt. Ähnlich wie die Namenspatronin und Jagdgöttin Artemis zeigt das durch die Trompeterin Ingrid Jensen, die Bassistin Noriko Ueda und die Drummerin Allison Miller komplettierte Sextett, dass es Frauen in puncto improvisatorischer Treffsicherheit locker mit den männlichen Kollegen aufnehmen können.
Am Anfang und am Ende der Aufnahme mögen samtig orchestral arrangierte Fremdkompositionen stehen, „Slink“ von Lyle Mays und Wayne Shorters feingliedrige „Penelope“. Dazwischen aber zeigen die Musikerinnen mit ihren eigenen Stücken, wie man die im Hardbop verankerte Ästhetik der Blue-Note-Geschichte ehren kann, ohne wie langweilige alte weiße Männer zu klingen. Das kann voller delikater Momente sein wie Tarantinos an Herbie Hancocks „Maiden Voyage“ erinnernder „Whirlwind“-Walzer oder atemberaubend rasant zugehen wie bei Rosnes Bop-Samba-Schussfahrt „Empress Afternoon“.
Ingrid Jensen wiederum zeigt, dass sie nicht nur als Trompeten-Solistin über die eigenständigste Stimme im Musikerinnen-Verbund verfügt. Ihre Waldfantasie „Timber“ lebt von einer mit Miles Davis’ „In a Silent Way“ vergleichbaren außerweltlichen Stimmung, in der sich klangliche Freiheit und rhythmische Verdichtung spannungsvoll die Waage halten. Artemis’ göttlicher Beistand ist dem Sextett nicht nur hier gewiss.

Josef Engels, 20.05.2023

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