Mit der Vorgängereinspielung „Sounds From The Ancestors“ blickte Kenny Garrett noch zurück in die Vergangenheit der afroamerikanischen Musik. Nun katapultiert sich der Alt- und Sopransaxofonist mit dem ersten elektronischen Album seiner Karriere zumindest vom Titel her weit in die Zukunft. Da ist die AI, jene künstliche Intelligenz, die uns derzeit wahlweise ängstigt oder mit Hoffnung erfüllt, schon wieder Geschichte.
Von wem sie getötet wurde, verraten Garrett und die fürs Programming, die Vocals und das Klavier zuständige Pop/Electronica-Produzentengröße Svoy auf „Who Killed AI?“ nicht. Im Gegenzug wird in den beiden ersten Nummern aber ziemlich deutlich, wessen Geist in die hiphoppelnden Drummachines, Synthesizer und Loops gefahren ist, über die sich der Saxofonist mit seinen markant bissigen, auf kurz angestoßenen Tönen basierenden Linien solistisch hermacht: Es ist der späte Miles Davis, an dessen Seite der junge Garrett selbst zu einem Weltstar wurde. Und so zitiert der Albumeinstieg „Ascendence“ deutlich das Stück „Wrinkle“ des späten Davis, während „Miles Running Down AI“ das blubbernde Jazzrockgemisch von „Bitches Brew“ und „On The Corner“ in den Kontext von rockgitarrenartigen Sounds, treibender Percussion und Daumenklavier-Texturen stellt.
Ähnlich wie bei seinem legendären Arbeitgeber stellt sich für die Zuhörerschaft nun auch bei Garrett die Frage, inwiefern sie sich auf Beats und Sounds einlassen will, die fernab des guten alten akustischen Jazz liegen. Die einen werden die eigentümliche Breakbeat-Version eines Balladenklassikers wie „My Funny Valentine“ möglicherweise als Sakrileg auffassen, während andere Garrett für sein heftig verzerrtes, an eine E-Geige erinnerndes Solo in „Divergence“ mit einigem Recht feiern dürften. So oder so lässt sich feststellen, dass Stücke wie „Transcendence“ und „Convergence“ auch ungeachtet des elektronischen Beiwerks ziemlich schöne Melodien haben. Und dass Garrett nach wie vor ein Killer-Saxofonist voller natürlicher Intelligenz ist.
Josef Engels, 20.04.2024
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