Andreas Scholl, der seine Aufnahmekarriere ein wenig revitalisiert hat, ist weiterhin auf dem Kirchenmusik-Trip. Im für einen Countertenor gar nicht mehr so zarten Alten von 56 Jahren kehrt er also zu seinen rheinischen Sängerknabenanfängen zurück. Und in dieser zurückhaltend innigen Musik hat sich der deutsche Sänger eigentlich immer am wohlsten gefühlt, die Opernbühne war für den introvertierten Charakter nie das ideale Podium. So bereichert er seine treue Hörerschaft nun also mit geistlichen Raritäten. Sein letztes Album war Wiener Hofkirchenmusik des frühen 17. Jahrhunderts des Tschechen František Tůma gewidmet, jetzt – auf neuem Label – gibt es ein Programm mit hochbarocker neapolitanischer Musik von Nicola Antonio Porpora, Leonardo Vinci, Pasquale Anfossi, Giovanni Battista Pergolesi, Angelo Ragazzi (nur in der Digital-Ausgabe) und einem venezianischen Ausflug – zu Antonio Vivaldi.
Dessen berühmtes Stabat Mater hat Scholl nach 1995 und 2017 bereits zum dritten Mal eingespielt – es gerät ihm immer reduzierter und verinnerlichter. Der Album-Titel „invocazioni mariane” gibt auch die thematische Richtung der Gesangsausschnitte aus Oratorien und Messkompositionen vor: Es geht hier um die diversen Vokal- wie Instrumentalaffekte, mit denen die Gottesmutter in den Kirchen musikalisch angefleht und besungen wurde – mal extrovertiert dramatisch, mal zart zurückhaltend. Die achtsam begleitende Accademia Bizantina unter dem angenehmen Geigenarm Alessandro Tampieris trägt zwei Ouvertüren sowie Pergolesis sanft swingendes einziges Violinkonzert in B-Dur vor. Und Scholl nimmt seinen immer noch puren, virbratoarmen Countertenor keusch zurück, übernimmt er doch berückend schön die Maria: „Ich interpretiere das mit der größten Aufrichtigkeit, ohne den geringsten Begriff von Travestie. Liebe, Verzweiflung und Schmerz transzendieren den Begriff des Geschlechts.“

Manuel Brug, 20.04.2024

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