home

N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Alexander Zemlinsky rückt gewöhnlich im Zusammenhang mit den höchst despektierlichen autobiografischen Äußerungen Alma Mahlers, die mit ihrem Kompositionslehrer wohl ein Verhältnis hatte, ins Licht des Interesses; durch diese nur schlaglichtartige Betrachtung seines Lebens geriet aber dessen tragische finale Wendung völlig in Vergessenheit: Wie viele seiner Berufsgenossen musste auch Zemlinsky vor den Nazis fliehen, und seine letzten Lebensjahre in den Vereinigten Staaten waren ebenso wie diejenigen mancher europäischer Mitemigranten von Depression und Erlahmen der Schaffenskraft geprägt. Auch seine Oper "Der König Kandaules" blieb daher unvollendet; erst 1996 erlebte sie, fertiginstrumentiert von Antony Beaumont, in Hamburg ihre Premiere.
Zemlinksy übernahm den Kandaules-Stoff von André Gide; zuvor taucht er u. a. bei Hebbel, bei Platon sowie ursprünglich bei Herodot auf. Kern der Erzählung ist das Schicksal des lydischen Königs Kandaules, der im 7. Jahrhundert v. Chr. von seinem Untergebenen Gyges getötet wurde, weil er diesen dazu genötigt hatte, heimlich seiner Frau beim Entkleiden zuzuschauen. Kandaules’ Frau hatte das ehrverletzende Komplott bemerkt und Gyges vor die Wahl gestellt, entweder selbst zu sterben oder nach Ermordung ihres Mannes an ihrer Seite König zu werden. Bei Zemlinsky fokussiert sich das Geschehen auf Kandaules’ Unfähigkeit, sein Glück und seinen Besitz für sich allein zu genießen; immer wieder lädt er zu rauschenden Festen und wirft verschwenderisch mit seinen Reichtümern um sich. Mit der Preisgabe der Intimsphäre seiner Frau jedoch nimmt sein Altruismus ungeheuerliche Ausmaße an und bedingt schließlich seinen Tod. Zemlinsky interessierte der Stoff möglicherweise vor dem Hintergrund der Not des ständigen Veräußern-Müssens privatester Seelengüter, wie es der Künstlerberuf mit sich bringt.
Kent Nagano hatte die musikalische Leitung der Salzburger Produktion von 2002, die der vorliegenden Live-Aufnahme zu Grunde liegt. Er erweist sich als brillanter Interpret der prinzipiell tonalen, aber niemals epigonalen Tonsprache Zemlinskys. Hervorragend kommen in dieser Einspielung die feinen psychologischen Qualitäten der Musik Zemlinskys zum Vorschein, deren Voraussetzungen in einer stupenden Ausdifferenzierung aller musikalischen Parameter liegen: Ein weiterer ausgesprochen überzeugender Beweis dafür, dass die "traditionelle", tonale Art des Komponierens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts keineswegs zwangsläufig am Ende war! Mit Wolfgang Schöne gewann man für Salzburg einen charakteristischen, stimmlich sehr präsenten Gyges, der sich auf beeindruckende Weise mit seiner Rolle zu identifizieren verstand. Nicht minder rückhaltlos agiert Robert Brubaker als Kandaules, wenn auch sprachliche Barrieren zu einer vergleichsweise geringeren Unmittelbarkeit seiner Darbietung führen. Nina Stemme als Kandaules-Gattin Nyssia wächst vor allem in der Schluss-Szene als desillusionierte Rächerin ihrer Tugend zu beeindruckender darstellerischer Größe. Die Ausstattung der Andante-Box fiel wie üblich sehr opulent aus; die beide Essays des Kandaules-Spezialisten Uwe Sommer liefern vor allem wertvolle historische Informationen, schweigen sich aber - wie dies in der Musikwissenschaft derzeit leider eine verbreitete Tendenz ist - über die Musik in ihrer konkreten Gestalt, über die Stil- und Gestaltungsmittel, die Harmonik etc., weitgehend aus.

Michael Wersin, 01.09.2007


Diese CD können Sie kaufen bei:

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen



Kommentare

Kommentar posten

Für diese Rezension gibt es noch keine Kommentare.


Abo

Top