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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Bereits in den ersten Takten wird die Herkunft und religiöse Verankerung der siebzigjährigen Komponistin offenbar: der russisch-orthodoxe Kirchengesang mit seinen emphatischen Chören und dem psalmodierenden Rezitationston des Vorsängers stand Pate für gut zwei Drittel dieser anderthalbstündigen "Johannes-Passion". Sofia Gubaidulina komponierte sie im Auftrag der Internationalen Bach-Akademie für das Projekt "Passion 2000" zum Bach-Gedenkjahr.
Ähnlich Wolfgang Rihm mit seinen Passionsstücken nach Lukas (siehe Rezension) versteht Gubaidulina laut Beiheft die Passion weniger als dramatische Handlung denn als ruhig vorgetragenen Bericht. Während Rihm aber die biblische Passionserzählung auf problematische Art vermenschlicht und aktualisiert, geht Gubaidulinas einen umgekehrten Weg: durch die Verschränkung des (irdischen) Passionsgeschehens mit den (himmlischen respektive Höllen-) Visionen zum Jüngsten Gericht aus der Apokalypse geht eine Archaisierung des Ganzen einher, die alles menschliche Empfinden objektiviert und distanziert.
Paradoxerweise rüttelt diese Archaik, die einerseits mit jenem asketischen, auf wenige Ganz- und Halbtonintervalle beschränkten Rezitationston, andererseits mit einem gewaltigen Orchester- und Chorapparat in Szene gesetzt wird, weit mehr auf als Rihms modernistischer Betroffenheitsgestus. Alle elf Abschnitte durchzieht - trotz des äußerlich ruhigen Rezitierens - ein ungemein spannungsgeladener Duktus.
Sofia Gubaidulinas Tonsprache kann man polystilistisch nennen, sie kennt melodiöse Oboenkantilenen, tonale Akkorde und Fortissimo-Cluster, Glissandi sowie Schlagwerk-Kanonaden gleichermaßen. Vor allem in den exzessiven Entladungen - zunehmend im letzten Drittel, in dem wahrhaft "der Teufel los" ist - zeigt sich Gergiew mit den Petersburger Truppen von seiner dämonischen Seite. Geradezu gebannt aber muss man den Solisten lauschen, allen voran dem sprichwörtlich russisch-schwarzen Bass Genady Bezzubenkows. Allein dieser phänomenalen Gesangsleistungen wegen sticht Gubaidulinas und Gergiews Beitrag aus den Bach-Beiträgen des letzten Jahres heraus, auch wenn dies nur die ästhetisch-weltliche "Hülle" dieses tiefen archaisch-religiösen Dramas berührt.

Christoph Braun, 01.09.2007


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