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N° 1355
27.04. - 04.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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Pascal Dusapin

O Mensch!

Georg Nigl, Vanessa Wagner

Col Legno/harmonia mundi COL20405
(73 Min., 4/2012)

Fast hat man den Eindruck, als ob Franz Schubert als Inspirationsquell nie so en vogue war wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Immerhin arbeiten sich unaufhörlich zeitgenössische Komponisten an Schuberts „Ton des Traumatischen“ (Adorno), an seinem verunsichernd schönen Espressivo ab. Ob nun Dieter Schnebel und Wolfgang Rihm, oder aus der jüngeren Generation Bruno Mantovani und der Österreicher Wolfgang Mitterer, der mit dem Liederzyklus „Im Sturm“ gespenstisch Schuberts Sehnsuchtspuls gefühlt hat. Geschrieben hatte Mitterer diese Schubert-Dekonstruktion für Bariton Nigl, der zu den wenigen Sängern gehört, die sich auf Anhieb vom Barock-Orpheus in Schönbergs „Pierrot“ verwandeln können. Nun hat der Franzose Pascal Dusapin Nigl seinen Zyklus „O Mensch“ gewidmet. Und obwohl die ausgewählten Gedichte und Gedankensplitter von Friedrich Nietzsche stammen, könnten als Co-Autoren glatt die von Schubert vertonten Mayrhofers, Rückerts und Müllers fungiert haben. „Lauf´ ich schon, wo lauf´ ich hin?“ heißt es da in „Desperat“. In „Heiterkeit“ trifft man auf Zeilen wie „Siebente Einsamkeit! Nie empfand ich näher mir süße Sicherheit“. Und ein Lied trägt gar den Titel „Der Wanderer“!
Aber nicht nur in solchen Anlehnungen spiegeln sich das Qualvolle und Hoffnungslose wider, in dem Nietzsches lyrisches Ich zum Alter Ego von Schuberts Doppelgänger wird. Dusapin hat mit ostinaten Rhythmen, harmonischen Brüchen und einer dünnhäutigen Tonalität Schuberts Klangsprache befragt und erweitert, um die beklemmende Kargheit und dramatische Absturzgefahr selbst im Rezitativischen noch zu potenzieren. Und Georg Nigl erweist sich einmal mehr als ein Stimmschauspieler ersten Ranges, der mit Herz und Hirn unablässig die Seelenkonfliktherde befeuert. Nur beim Lied-Gruß aus der Tonne des Diogenes geht es zur motorisch verkanteten Klavierhast (Vanessa Wagner) durchaus amüsant und skurril zu – wenn Nigl mit Nietzsche-Zungen bekennt: „Nothdurft ist wohlfeil, Glück ist ohne Preis: Drum sitz´ ich statt auf Gold auf meinem Steiß“.

Guido Fischer, 09.03.2013


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