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Reden wir nicht über den Magier. Reden wir nicht über einen der größten Dirigenten unserer Zeit. Reden wir über den Musiker, dessen Gehör politisch geschult ist. Der stets, bei aller rein ästhetischen Anschauung dessen, was die Kunst ist, was sie vermag, den Blick geöffnet hielt für das, was in der Welt »da draußen« geschieht, abseits der gewärmten heiligen Hallen, in denen die Kunst, zumal die Musik, letztlich doch ein behütetes Leben führt. Reden wir also über jenen Claudio Abbado, der ein Wort seines Freundes Luigi Nono im Geiste immer mit sich führte, wonach alle Musik politisch sei. Und nehmen wir dann einen Satz aus Abbados Mund, der das so elegant zusammenfasst: »Die freie Entfaltung der schönen Künste ist nicht ein luxuriöses Resultat von gesellschaftlichem Reichtum, sondern umgekehrt: Die Kultiviertheit schafft erst den Reichtum.« Betrachtet man Abbados Leben und Wirken, dann versteht man, was er meint. Natürlich hat er die großen Tempel der Musik mit seiner Magie gefüllt, aber mit der gleichen Lust hat sich Claudio Abbado der Jugend zugewandt. Hat Orchester gegründet, sie gefördert, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, das Mahler Chamber Orchestra, das ohne seine Hilfe und seine Beziehungen nie und nimmer da wäre, wo es jetzt ist: in der Weltklasse. Mit feinem Gespür für das, was machbar ist, logistisch wie künstlerisch, hat Abbado mitgeholfen, dieses Ensemble als eines zu etablieren, das fern der Subventionshörigkeit der Dienstorchester in Freiheit lebt und arbeitet – und damit sensationelle Erfolge erzielt.
An diesem Punkt betritt ein junger Musiker aus Venezuela die Bühne. Gustavo Dudamel heißt er. Am 26. Januar 1981 kommt er in dem kleinen Städtchen Barquisimento zur Welt. 27 Jahre später ist er ein weltberühmter Dirigent. Seine Geschichte, die kein Märchen ist, aber danach klingt, beginnt schon vor seiner Geburt, im Jahre 1975. Es ist, zuallererst und immer wieder, die Geschichte eines gewissen Doktor José Antonio Abreu. Er will dafür sorgen, dass jene Kinder, die für gewöhnlich mit der Geburt für eine »Karriere« in Armut und Elend prädestiniert sind, eine andere, weit sonnigere Laufbahn einschlagen können. Zum Kernanliegen von Abreus »Sistema« wird es, dass die Kinder früh herauskommen aus den Slums und stattdessen in den Genuss von Musikunterricht gelangen. Gustavo Dudamel etwa, der seit der Spielzeit 2007/08 Chefdirigent der Göteborger Symphoniker und zudem designierter Musikchef des Los Angeles Philharmonic Orchestra ist und in seinem Land längst als die Symbolfigur einer einzigartigen Klassikbegeisterung gilt, beginnt im Alter von zehn Jahren damit, Geige zu spielen. Ein Freund hatte ihn mit zu einer Probe genommen, die Begeisterung für das Orchester ist sogleich entfacht. Kurze Zeit später kommt das Fach Komposition hinzu. Als Dudamel mit zwölf Lenzen erstmals stellvertretend vor einem Orchester steht, bemerkt man sein gewaltiges Talent. Er wird, vor allem von seinem Dirigierlehrer Abreu, gefordert und gefördert, 1999 zum Chefdirigenten der »Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar« ernannt, einem Klangkörper, der aus 220 jungen und talentierten Musikern im Alter von 16 bis 26 Jahren besteht. Irgendwann wird auch Claudio Abbado auf das Orchester und vor allem auf dessen Leiter aufmerksam. Seine Begeisterung ist schnell entfacht, er sieht das enorme Potential Dudamels. Er fährt nach Caracas, arbeitet mit den jungen Musikern zusammen, und auch er fordert und fördert sie.
Dudamel profitiert davon. Auch dank Abbados (und anderer) Hilfe ist er heute ein weltbekannter Dirigent, dem man allerdings wünscht, dass er nicht das Schicksal der mythischen Figur Ikarus erleidet, sondern, wie sein Mentor Abbado, immer wieder eine Stufe zur Glückseligkeit hinaufsteigt. Allzu rasch scheint der Aufstieg dieses über die Maßen talentierten Musikers vonstatten gegangen zu sein, allzu rasant. Noch vor ein paar Jahren kannte ihn niemand. Das änderte sich, gleichsam im sprichwörtlichen (und positiven) Sinn, schlagartig, als er anno 2004 in Bamberg beim ersten Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb antrat und sowohl die Musiker der Bamberger Symphoniker als auch die Jury im Sturm einnahm. Unvergesslich beinahe Dudamels Dirigat der fünften Sinfonie von Mahler. Ein Sprühen und Funkeln lag da in der Luft, dass man beinahe vergaß, dass es sich um ein tragisches, tief zerfurchtes Werk handelt. Dudamel dirigierte es wie ein Revolutionsstück. Er riss alle Mauern einfach nieder. Und wurde dabei beobachtet: Bereits zwei Jahre nach dem Bamberger Erfolg nahm Gustavo Dudamel seine erste Platte beim Gelblabel auf, mit seinem Orchester, der »Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar«.
Diese emotionale Energie hat sich Dudamel bewahrt. Darin ist er anders, ganz anders als sein Mentor Abbado. Abbado ist ein Intellektueller durch und durch, ein Mensch, dessen Bildungshorizont sehr, sehr weit reicht. Seine Interpretationen haben Endgültigkeitscharakter. Und sie scheinen zu schweben, gerade in den letzten Jahren, in denen er dem Tod nicht nur einmal ins Gesicht geschaut hat, aber über ihn hinweggegangen ist, so als wollte er sagen: »Ich brauche dich noch nicht, ich habe noch zu tun.« Vielleicht liegt darin das Außergewöhnliche im Spätstil Abbados. In diesem: es muss sein. Gustavo Dudamels Zugang zur Musik ist zweifelsohne ein anderer. Es ist vor allem Enthusiasmus, der ihn trägt, ihn und seine Art, die Werke zu übermitteln. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Dudamels Talent darin beschränkt. Kein Geringerer als Simon Rattle hat über den jungen venezolanischen Dirigenten gesagt: »Er ist wohl der Begabteste von uns.« Und genau an dieser Stelle treffen sich Väter und Söhne in der Kunst. Im Talent. Und im Erkennen dieses Außergewöhnlichen. Und darüber lohnt es sich immer wieder zu reden ...
DG/Universal
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Nur wenige Dirigenten haben sich so stark dem Geist der Jugend verpflichtet wie Claudio Abbado. Erst kürzlich war ich mit ihm gemeinsam bei der Probe eines spanischen Jugendorchesters in Madrid. Sofort war er mit seiner ganzen Aufmerksamkeit und Begeisterung bei den jungen Musikerinnen und Musikern. Zwei der bedeutendsten Jugendorchester der Welt – das Gustav Mahler Jugendorchester und das European Union Youth Orchestra – gehen auf Claudio Abbados Initiative zurück und wurden von ihm über viele Jahre hinweg geleitet. Eine große Liebe entwickelte er in den vergangenen Jahren zum Orquesta de la Juventud Venezolana Simón Bolívar: Er verbrachte gar die Wintermonate in Caracas, was sich in zahlreichen bewegenden Konzerten und Freundschaften niedergeschlagen hat. Nie vergessen werde ich einen höchst inspirierten Abend irgendwo in einer kleinen Wohnung eines Musikers in Caracas. Es wurde musiziert, getanzt, gelacht. Claudio Abbado war in seiner Heimat – der Jugend.
Neben den besagten Jugendorchestern gehen auch das Chamber Orchestra of Europe, das Mahler Chamber Orchestra, das Orchestra Mozart in Bologna und das Festival Wien Modern auf die Idee und Initiative von Claudio Abbado zurück. Seit nunmehr fünf Jahren kommt Claudio Abbado Sommer für Sommer nach Luzern, um mit seinem Lucerne Festival Orchestra zu musizieren. Ein Orchester aus lauter Solisten hat er sich hier aufgebaut: Langjährige Weggefährten wie die Cellistin Natalia Gutman, der Geiger Kolja Blacher, die Klarinettistin Sabine Meyer oder der Trompeter Reinhold Friedrich treffen mit den jungen Musikern des Mahler Chamber Orchestra zusammen, um frei von Routine und Dienstplänen, ohne Misstrauen, Druck und Zwänge die Idee musikalischer Freundschaft und Freiheit zu zelebrieren. Eine Familie ist es, die Claudio Abbado um sich versammelt hat. Er selbst hat die Arbeit mit diesem Orchester als »Erfüllung eines Traumes« bezeichnet.
Tom Persich, 31.05.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2008
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