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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Christian Gerhaher

Es löscht Musik die Worte aus

Durch seine Deutung der großen Liedzyklen Franz Schuberts hat sich der Bariton Christian Gerhaher an die internationale Spitze der Liedinterpreten gesungen. Nun hat er sich eine Auswahl von Schuberts „Abend“-Liedern vorgenommen. Helga Utz sprach mit ihm über die „Nachtseiten“ der deutschen Romantik.

RONDO: Herr Gerhaher, was zeichnet für Sie Franz Schubert vor allen anderen Komponisten aus?

Christian Gerhaher: Ich möchte das Verdienst der anderen Komponisten nicht schmälern, aber unerreicht ist Schubert in der Vielgestaltigkeit. Nie scheint er ein Rezept zu befolgen und aus Texten ganz unterschiedlicher Qualität schöpft er eine immer singuläre Intuition. So kann er auch aus miserablen sprachlichen Gebilden grandiose Lieder zaubern. Aber Schubert versteht auch etwas von der Qualität der Texte – das merkt man daran, dass er sich bei wirklich grandiosen Gedichten wie zum Beispiel bei Goethes „Harfner“-Gesängen kompositorisch zurückgenommen hat. Schubert löscht gewissermaßen das Gedicht durch seine Komposition aus, indem er etwas Neues, eben ein Lied schafft. Goethe mag das gespürt und Schubert wohl deshalb nicht geschätzt haben.

RONDO: Fühlen Sie sich Schubert seelenverwandt?

Gerhaher: Nein. Leider nicht. Ich verstehe ihn nicht, genauso wenig wie ich Bach verstehe. Schumann eher, durch seine sekundäre Annäherung zur Musik (er wollte ja lieber Schriftsteller werden), durch seine Distanz zum eigenen künstlerischen Tun ist mir Schumann vertrauter.

RONDO: Der „Abend“ in Schuberts Liedschaffen – wofür könnte er stehen? Was bedeutet er Ihnen?

Gerhaher: „Abend“ steht für mich in einem starken emotionalen Spannungsfeld – am Abend nehmen Sehnsüchte Gestalt an, weil wir erkennen, dass wir tagsüber nicht das erreicht haben, was wir erreichen wollten. „Abend“ steht für den ersehnten Frieden, aber auch für die dunklen, abgründigen Seiten, und für Schubert ist es ja überaus charakteristisch, dass er nie eindeutig ist.

RONDO: Wie beurteilen Sie beim Lied das Spannungsverhältnis von Text und Musik?

Gerhaher: Wissen Sie, einerseits bin ich als Sänger gewiss kein Geschichtenerzähler. Anderer seits sind es gerade die klanglichen Möglichkeiten des Textes, die die Musik vertiefen und durch musikalische Farben bereichern. Fritz Wunderlich und Dietrich Fischer-Dieskau sind hierin die besten Beispiele.

RONDO: Lesen Sie Kritiken? Beeinflusst Sie das?

Gerhaher: Sicherlich. Ich versuche zumindest zu verstehen, wie ein Urteil zustande kommt. Die „Richtigkeit“ beim Singen ist ja ein sehr schwieriges Kapitel, und ein technisches Plus bedeutet nicht selten einen Verlust an inhaltlicher Ausdruckskraft.

RONDO: Was schätzen Sie an Ihrem Klavierpartner Gerold Huber?

Gerhaher: Wir kennen und vertrauen uns seit 17 Jahren, wir haben das gleiche Bedürfnis, uns künstlerisch vollständig auf etwas einzulassen, und würden beide niemals auf eine frühere Lösung zurückgreifen. Wir funktionieren wie zwei durch Fasern verbundene Muskeln, die sich automatisch verkürzen oder lockern, je nach dem Verhalten des anderen. Außerdem verblüfft er mich nach wie vor durch seine überragenden künstlerischen Fähigkeiten.

RONDO: Gibt es auch schmerzliche Seiten des Sängerberufes?

Gerhaher: O ja, da fällt mir einiges ein. Das größte Problem ist die grundsätzliche Unsicherheit. Das sokratische Nichtwissen erstreckt sich auf beinahe alles, was mit unserem Beruf zu tun hat. Nicht allein die technische Unsicherheit – was gestern richtig war, kann heute längst falsch sein. Man möchte seine Identität wahren, doch man muss sich der Veränderung stets öffnen. Das Leben ist nicht nur zu kurz, sondern auch viel zu lang, um es im Augenblick zu vergeuden.

RONDO: Man hört es – Sie haben neben Gesang und Medizin auch Philosophie studiert.

Gerhaher: Na ja, mein Denken ist für die Philosophie ehrlich gesagt nicht analytisch genug. Aber zwei meiner Grundsätze kann ich Ihnen verraten, erstens: „Semper respice finem“ („Beurteile eine Sache stets von ihrem Ausgang her“) und zweitens ein Satz von Karl Valentin: „Das Leben ist wie eine Lawine. Einmal geht es hinauf, und dann wieder herunter“.

Neu erschienen:

Schubert

Abendbilder

Christian Gerhaher, Gerold Huber

RCA/Sony

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Helga Utz, 31.01.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2006



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